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Neuer Deutsch(sprachig)er Genrefilm #10: Victoria (2015)


Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by Wild Bunch Germany & Universum Film


Fakten
Jahr: 2015
Genre: Drama, Thriller
Regie: Sebastian Schipper
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz
Besetzung: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André Hennicke
Kamera: Sturla Brandth Grøvlen (♥)
Musik: Nils Frahm
Schnitt: Olivia Neergaard-Holm


Review
Die Strobo-Blitze flackern. Ein endloser Rhythmus, stetig und pausenlos, wie ein natürlicher Puls, der direkt in diesen ersten Sekunden den konstanten Fluss der nächsten 140 Minuten vorgibt. Auf einen Takt ein-grooved, der nicht abklingen wird, weil VICTORIA ihn wie einen Herzschlag verinnerlicht hat und durch ihn lebendig wird. Pures, ungefiltertes Leben ist und wie dieses ohne Unterlass voran schreitet – immerfort weiter, ohne Pause, ohne die Möglichkeit sich auszuklinken. Als sich bald aus den Blitzen erste Schemen, aus den Schemen langsam Formen und aus diesen die unscharfen Umrisse einer hingebungsvoll tanzenden jungen Frau ergeben, haucht eine verzerrte Stimme leisen Gesang über den Bass-lastigen Beat: “Burn with meeeeeeee“. Und vielleicht steckt in diesen wenigen Worten bereits die nächste Verheißung dessen, was uns im Folgenden erwarten wird. Vielleicht drücken diese drei Silben alles aus, was es an Motivation braucht um die tanzende Victoria in den nächsten Stunden zu Dingen zu treiben, die sie nie für möglich gehalten hätte. Nur einmal wieder brennen. Für irgendetwas. Ein einziges Mal wieder Leidenschaft verspüren, die emotionale Leere aufbrechen. Wahrgenommen werden. Leben.

Denn was als aufregende Entdeckungs-Tour einer neugierigen “zugezogenen” Berlinerin ohne Berührungsängste beginnt, könnte zunächst zwar als beiläufige Sozialstudie der Feier-Kieze heutiger Metropolen durchgehen, entpuppt sich zunehmend als Reise in ganz andere Gefilde – Endstation gebrochene Seele. Nachdem die äußere, anfangs noch in Abwehrhaltung auftretende Hülle dieses Inneren, die junge Victoria, sich irgendwo zwischen Club-Nacht und Schichtbeginn im Café, auf ein feucht-fröhliches um-die-Häuser-ziehen mit der stilecht im Jogging-Anzug gekleideten Bande um Boxer, Sonne, Blinker und Fuß einlässt, zunächst noch eher verhalten amüsiert von deren prollhaften Albernheiten, beginnt ein Strudel der Ereignisse seinen Lauf zu nehmen, der Stück für Stück, ganz beiläufig, einen um den anderen menschlichen Kern freilegt. Wenn VICTORIA in seiner ersten Hälfte von einem erzählt, dann wohl davon, dass wir nur allzu oft von Fassaden geblendet weg sehen, obwohl dahinter etwas wirklich liebenswertes stecken könnte. Dass diese Fassaden in einer Gesellschaft, die zunehmend mit harten Bandagen kämpft vielleicht auch nur Schutzschilder sind, welche aufrecht erhalten werden, um zu blocken.

Wer sind diese Jungs in ihren Synthetik-Hosen, für die sich die Gesellschaft nicht einen Deut interessiert, sondern sie im Gegenteil viel eher mit verächtlichen Blicken abstraft? Wo kommen sie her und wollen sie überhaupt noch irgendwo hin, oder sind sämtliche Träume schon nächtens auf der Dachterrasse zu den Sternen entschwunden? Und wer ist diese Victoria, die sich urplötzlich, umringt von sich aufspielenden jungen Männern so geborgen fühlt, weil sie anscheinend seit langem nicht erlebt hat wie sich echte Zwischenmenschlichkeit anfühlt? Was erzählt uns der Film über eine Generation deren Träume geplatzt sind, falls sie je welche hatten und deren Lebensrealität durch Vodka-Shots im Gegenwert eines Stundenlohns definiert ist? Auch wenn VICTORIA inhaltlich noch ganz andere Pfade beschreiten wird, sind es doch diese Fragen, die in der beiläufig erscheinenden, aber doch so punktgenauen Charakterisierung der Figuren immer und immer wieder gestreift werden. Und die sich auch uns beim Schauen stellen, denn aufgrund eines nicht unwesentlichen Kniffes, fühlt sich VICTORIA enorm anders an, als es ein beliebiger anderer Film tut.

Denn Sebastian Schipper’s Mammut-Projekt ist in seinem Konzept gleichermaßen visionär wie irrsinnig und in der Umsetzung bis dato einzigartig – aufmerksame, an Technik des Filmemachens interessierte Rezipienten können sicher den ein oder anderen “legendären” Longtake aus über hundert Jahren Filmgeschichte zitieren. Plansequenzen, die sich von der üblichen Funktionsweise bzw. den etablierten Routinen des Mediums frei machen und einen eigenen Fluss erzeugen – Orson Welles (schon immer für brillante technische Innovationen bekannt) erschuf mit den berühmten dreieinhalb Minuten aus IM ZEICHEN DES BÖSEN einen Meilenstein der filmischen Raumerschließung und Perspektivwechsel, Hitchcock versuchte sich bereits 1948, also 10 Jahre zuvor, mit ROPE gar an der Illusion eines gesamten, in nur einer Einstellung erschaffenen Films (was BIRDMAN ganze 66 Jahre später ähnlich aufgriff), neuere Vertreter wie CARLITO’S WAY oder CHILDREN OF MEN formten das Konzept bis zur Perfektion aus und 2002 drehte Alexander Sokurow mit RUSSIAN ARK sogar den ersten, tatsächlich in einer einzigen Einstellung umgesetzten Film – in einem einzigen Gebäude. Schipper, bzw. VICTORIA tut dies auch, nur gibt sich nicht mit einem Gebäude zufrieden. Auch nicht mit einem Stadtteil. Kellerclubs, Hausdächer, Kaffees, Autofahrten, Tiefgaragen – VICTORIA liefert eine 140 minütige Reise durch verschiedenste Ort in Berlin-Mitte, die Kamera immer als unsichtbarer Beobachter dabei, kein Schnitt, keine Auslassung, keine Ruhepausen.

Kann das klappen? Was muss Film leisten um zu funktionieren? Welche Kernqualitäten müssen erfüllt sein? Natürlich sind die Antworten mannigfaltig, es gibt zig Aspekte, deren meisterliche Umsetzung das Film-Erlebnis zu einem gelungenen werden lassen kann – Drehbuch, Bildsprache, Schauspiel – die Schwerpunkte können verschieden gesetzt sein. VICTORIA jedoch, appelliert in seiner Wirkung an die elementarste Form des Filmgenusses und zehrt so von einem besonderen Aspekt, den man sonst gar nicht unbedingt als eigenständiges Kriterium werten würde: dem Gefühl des dabei sein. Mehrfach vor, während und nach Erscheinen des Filmes wurde die Frage nach der Sinnhaftigkeit des technischen Ansatzes gestellt, angezweifelt ob der Longtake mehr als nur ein Gimmick sei – die Antwort muss natürlich jeder für sich selbst finden, denn was ist subjektiver, als der Sinn von künstlerischen Entscheidungen, aus dem Bauch heraus, gibt die Funktionsweise dieses einzigartigen Werkes jedoch sofort die Antwort: natürlich ist er mehr! Viel mehr sogar, denn durch den ununterbrochenen Blick der Kamera, wird dieser in selten erlebter Konsequenz zu unserem eigenen. Die Möglichkeit aus dem eigenen Sofa, dem Kinosessel, etc. heraus in TV oder Leinwand zu transzendieren und ein Teil des Ensembles zu werden, als sechste Person mit Ihnen nächtens durch Berlin zu ziehen, war nie wahrscheinlicher, das Gefühl wirklich und wahrhaftig mit dabei zu sein nie stärker. Als stiller Mitläufer des Plots geschieht etwas eigenartig intensives – spätestens nach 30-40 Minuten setzt das Gefühl, hier überhaupt noch einen Film zu sehen, vollständig aus – man ist ein Teil des Gesehenen geworden. “Sieht” eigentlich gar nicht mehr, sondern “erlebt”. Mehr Immersion war nie, Zeit wird relativ, das Gefühl für sie scheint völlig verloren.

Das Resultat ist vollkommene Sprachlosigkeit. Nachdem VICTORIA sich urplötzlich in einen waschechten Genrefilm wandelt und Schipper die Spannungsschraube konstant bis weit über das erträgliche hinaus anzieht – fordernd, zerschmetternd, aufwühlend – dominiert in dem Moment, wo die führende Hand sich endlich löst, welche uns über zwei Stunden durch eine aus dem Ruder gelaufene Nacht mitschliff und der Druck erstmalig wieder abfällt, fast schon ein befreiendes Maß an tragischer Erleichterung. Adrenalin auf dem Kinositz, weil “im Film” und “vor dem Schirm” das gleiche geworden ist. Danach scheint man die Welt mit anderen Augen sehen, den Duft der Großstadt in leicht veränderter Form zu schnuppern. Räume fühlen sich anders an, Menschen scheinen sich anders zu verhalten und neben einer nicht zu leugnenden Erschöpfung, herrscht das Gefühl vor, hier etwas großem beigewohnt zu haben. Etwas, dass eine Vielzahl leidenschaftlicher Menschen in einem unbegreiflichen Kraftakt erschaffen hat und das bleiben wird. 140 Minuten wahrhaftiges Kino. Ob dies tatsächlich vom Speicher der digitalen Kamera (vom nachträglichen Hinzufügen Nils Frahm’s unglaublicher Filmmusik mal abgesehen) unverändert auf die Datenträger in unserem Wohnzimmer transferiert wurde, sei dahin gestellt – vielleicht wurde im Nachhinein der ein oder andere Fehler ausgebessert, den man on-the-fly im nächtlichen Berlin nicht vermeiden konnte. Denkbar. Doch es fühlt sich nicht so an und ist vor allem überhaupt nicht relevant, weil die Magie des Filmemachens in VICTORIA so pur, so roh, so ungefiltert auf uns einprasselt, dass mir die Superlative zur Beschreibung ausgehen. Schipper schreibt Kinogeschichte und wir sind dabei. Danke dafür.


Wertung
10 von 10 nächtlichen Strudeln der Ereignisse


Veröffentlichung
VICTORIA ist bei Wild Bunch Germany im Verleih von Universum Film als BluRay und DVD erschienen. Im Bonusmaterial befinden sich: Audiokommentar des Regisseurs Sebastian Schipper, Interviews mit Frederick Lau und Sebastian Schipper, Kameratest, Castingszenen, One Take Interview mit der Intro (nur BluRay), Kinotrailer. Die Discs kommen im Wendecover ohne FSK Logo.


Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

11 Gedanken zu „Neuer Deutsch(sprachig)er Genrefilm #10: Victoria (2015)“

  1. Apropos Long Shots,

    wie zur Hölle haben die Jungs das hier gemacht???
    Ich kann zumindest keine Computertricks erkennen.
    Komplette Ratlosigkeit…wenn mir jemand von euch das erklären könnte wäre ich glücklich :0

    1. Gute Frage. Denkbar wäre der Anflug zur Eröffnung mit einer Drone, die eine tatsächliche Schulterkamera per Aufhängung steuert. Diese hätte dann beim Eintreffen und der Drehung in der Crowd ein Kameramann übernehmen können. Oder während besagter Drehung sitzt ein versteckter Schnitt. Wirkt tatsächlich sehr unerklärlich. Und die Szene ist x-fach besser, als im gerade angelaufenen US-Remake.

      1. OK, Drohneneinsatz ist schon mal eine bessere Erklärung als meine (Fallschirmspringer, hähähä).
        Dass die Fußballaction gerade in diesem Moment auf das richtige Tor geht und auch noch mit einem Lattenkracher endet ist aber seltsam. Vielleicht mehrfach gedreht bis es passte und dann weiter gemacht.
        Der Rest dann mit Schulterkamera, wobei der 3 Meter Sprung von dem Bösewicht aber auch rätselhaft ist, es sei denn der Kameramann wäre auch 3 Meter groß
        Am Ende läuft der auch noch auf das Spielfeld. War denn das Publikum eingeweiht, das wird doch sofort abgepfiffen, oder war das ein getürktes Spiel in der Halbzeitpause?
        Fragen über Fragen…

        Ach was, da gibts ein Remake von?
        Ausser Superhelden fällt Hollywood wohl nix mehr ein….

    1. Ja, Euphorie erzeugt der Film auch! Allerdings ist vorsicht geboten, denn er funktioniert nicht im entferntesten wie ein “normaler” Film. Die erste halbe Stunde vor allem, fühlt sich eher so an, als würde man nächtens vor dem Club stehen und ein paar zerfeierte Typen beobachten. Ich glaube bei dem Film ist essentiell, dass man ihn extrem aufmerksam und ohne Pausen, Ablenkung, etc. guckt, weil sonst dieses rein gezogen werden schwer funktioniert…

  2. “Mehr Immersion war nie, Zeit wird relativ, das Gefühl für sie scheint völlig verloren.”

    Eine der (vielen) ganz großen Stärken des Films. Ich bin mit dem Stroboskoplicht in die Geschichte eingetaucht und erst mit der Nennung des Kameramannes in der Abblende wieder aufgetaucht. Was letzterer an Hindernissen zu überwinden hatte und die Kamera trotzdem in den meisten Szenen recht stabil und ruhig war, das ist mir erst im Nachhinein aufgefallen. Ganz großartig. Das Wichtigste ist aber für mich, dass mich “Victoria” dieses technische Alleinstellungsmerkmal (ebenso wie “Birdman”) völlig vergessen lassen hat, während ich den Film sah. Da der one shot so ziemlich das Einzige war, was ich über den Film wusste, hatte ich Angst, dass ich mich allein darauf konzentrieren würde. Dass das nicht passiert ist, ist allen Beteiligten sehr hoch anzurechnen.

    Ich habe mich noch nie so sehr auf das Sichten des Bonusmaterials und auf den Audiokommentar gefreut wie bei diesem Film.

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