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Film: Tokyo Tribe (2015)


Tokyo Tribe (IMDb) – Groteske, Musical, Japan, 2015 – Regie: Sion Sono, Skript: Sion Sono, Kamera: Daisuke Sôma, Musik: B.C.D.M.G., Copyright (Titelbild, Bildausschnitte, Trailer): Rapid Eye Movies


Review
Tödliche Haarverlängerungen, ein vierstündiges Splatter-Liebes-Epos mit Martial-Arts-Hößchenfotografie und nun ein abgedreht-buntes Gangsta-Rap-Musical, das sich wie die Smartphone-Game-Version der ENTER-THE-VOID-Variante von THE WARRIORS anfühlt – immer wenn man denkt Sono Sion kann keinen mehr drauf setzen, tut er es einfach. Wer zelebrierten Exzess zum vielleicht einzigen roten Faden des eigenen Werks erkoren hat, trumpft eben in den unerwartetsten Momenten durch ein seltenes As im Ärmel auf.

Lässt man sich den Inhalt von TOKYO TRIBE genüßlich auf der Zunge zergehen – dauer-rappende Gangs in Tokyo, die mit Fäusten und Punchlines in einer blinkend-verzerrten Neon-Variante der Stadt um Territorien battlen, sich aber dann zusammenschließen um den fiesen, kleine Kinder verspeisenden Oberboss vom Thron zu schmeißen – so steht eigentlich nur eines fest: zu erahnen, was in diesem Konglomerat der weirden Ideen an überbordenden Motiven auf den Zuschauer wartet, gestaltet sich unmöglich. Zu ungewöhnlich, zu schräg und (ganz in Tradition des Regisseurs) eben auch zu einzigartig. Aus eben dieser Unberechenbarkeit generierte Sono oft einen nicht unerheblichen Teil seiner Schlagkraft, die Konsequenz mit der er Dinge einfach tat, statt sich vorsichtig heranzutasten, zeichnet sein Werk von jeher aus. 

Überraschenderweise agiert TOKYO TRIBE dann doch klarer als erwartet innerhalb der selbst abgesteckten Grenzen (etwas was z.B. seinem Meisterwerk LOVE EXPOSURE maximal für jeweils 30 Minuten gelingt, weil sich dann schon wieder die Regeln ändern) und so sehr sich das Endresultat auch einer jeden präzisen Vorahnung entzog, bekommt man auf entwaffnend ehrliche Weise irgendwie doch exakt das geboten, was drauf steht – ein farbenfrohes Rap-Musical.

Absurd kostümierte Gangs, teils an den klassischen Westcoast-Charme von Rap-Combos wie N.W.A. oder Bone-Thugs-N-Harmony angelehnt (Norimuthafuckaz), teils im Plastik-Samurai-Outfit irgendwo in einer pervertierten Variante japanischer Tradition verhaftet, teils als Referenz auf die seit jeher in Unterzahl auftretenden rappenden Ladies von Missy Elliott bis Foxy Brown (Gira Gira Girls) zu lesen, treffen aufeinander, lassen Fäuste und Baseballschläger sprechen, rappen dabei mal mehr, meist weniger passabel und an Irrsinn mangelt es keinem dieser Zusammenkünfte auch nur ein Sekündchen.

Dass sich bald auch noch auf Auftrag eines geheimnisvollen “großen Alten” hin übernatürlich anmutende Superkämpfer unters Volk mischen, um die Straßen aufzuräumen, schlecht animierte Panzer halb Tokyo zerballern und überlebensgroße Turbinen, die in Wänden als Waffe versteckt sind, Menschen zerfetzen, fällt in dieser Welt kaum noch auf – hier geht alles.

Sono zelebriert neben der Flut an bis zum bersten vollgestopften Bildern, die er ungefiltert in seinen Film verbaut, auf fast debil-naive Weise die schillernden Fassaden und Klischees einer Musikrichtung, deren gesamtes Auftreten fast ausschließlich auf Oberflächlichkeit beruht. Zu viel Bling, zu viel Pose, zu viel laute Selbstdarstellung? Gibt es hier nicht! Und da goldene Knarren, leuchtende Stadtviertel und eine konsequente Rauschüberflutung in jedem Bild nicht ausreichen, gesellen sich inmitten der stetigen Lautstärke auch noch Momente deren psychedelischer Ansatz in einem Jodorowsky-Werk der Siebziger nicht weiter aufgefallen wäre.

Fordernd und überwältigend ist dieser konstante Strudel aus zügellosem Wahnsinn ohne Frage, bis ins Letzte aufgehen tut er jedoch nicht, denn immer wieder läuft die (in einigen stattlich in Szene gesetzten Plansequenzen verpackte) Rauschüberflutung Gefahr sich abzunutzen, bzw. tut es. Obwohl die grotesk überzeichnete Musical-Welt in TOKYO TRIBE ihresgleichen sucht, bietet sie in sich über zwei Stunden zu wenige Nuancen, ist seltsam einheitlich, schiebt die Regler nie auf unter 11. Alles schillert, alles glänzt, alle (bis auf die Waru, deren Motto LOVE & PEACE den anderen Gangs ein Dorn im Auge ist) wollen konstant Stress, was in der zweiten Hälfte zu einem nie abbrechenden Schwall aus Geprügel führt. Choreografiert ist dieses recht frisch und zackig, doch fehlt es an Möglichkeiten zum Ausbruch aus dem nie abschwellenden Konglomerat von Rap und Faustkampf.

Die Achillesferse stellen im Zuge dieser Ermüdung nicht die Martial-Arts Elemente dar – sie funktionieren im Gros, bieten Gun-Fu, Kung-Fu und wildes Gekloppe gleichermaßen – sondern die Qualität der Musik. Diese kann hingegen weniger überzeugen. Nett ausgedrückt. Ein Musikfilm mit dürftiger Musik? Finde den Fehler! Da Rap den Film über weite Teile ausmacht, hätte auf Seite der MCs eine dicke Schippe mehr Talent nicht geschadet. Wirklich glänzen tut in TOKYO TRIBE nur das Gold der Ketten, am Mikro geben sich die Darsteller jedoch bestenfalls solide, schlimmstenfalls wie Statisten, denen Taktgefühl fremd ist und die knapp vor Dreh noch die letzten Textzeilen lernen mussten. Unschön und im Hinblick auf den völligen Genuss des Films ein großes Hindernis.

Wirklich übel nehmen kann man es Sono, bzw. TOKYO TRIBE nicht, ist der Film doch mit zu viel Hingabe und Inbrunst inszeniert, strotzt vor Selbstbewusstsein, Experimentierfreude und augenzwinkernden Film-Referenzen (zu KILL BILL & co.), ist insgesamt zu eigen und absonderlich, mal wieder ein echtes Unikat. Allerdings hätten Darsteller die tatsächlich rappen können und der ein oder andere stumpfe Moment (bzw. sich gegenseitig anbrüllende Gangster) weniger den Film von einem holprigen Vierzeiler-Kuriosum zu einer dicken Punchline mit Flow (und der Kraft das Battle zu gewinnen) erhoben.

Aber was soll’s, denn mindestens “Tokyo Tribe, never ever die!” bleibt – wie eine gute Hook es sollte – noch lange im Hinterkopf hängen.


Wertung
5-6 von 10 monoton vorgetragenen Battleraps


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5 Gedanken zu „Film: Tokyo Tribe (2015)“

    1. Der Film ist auch einfach mächtig drüber. Aber macht schon Spaß Ich Frage mich allerdings wie er wirkt, wenn man keinen Hip Hop hört oder mag… Vielleicht sogar besser, weil einem dann evtl. nicht oder weniger auffällt, wie dürftig der rap teilweise ist.

      1. Vielleicht schreckt aber auch genau das dann eher ab. Für mich wirk er so schon überzogen bunt und irre, da ist der Rap natürlich nochmal eine Stufe mehr, was etwaige Belastung angeht.

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