Trailer © by STUDIOCANAL
Fakten
Jahr: 1980
Genre: Drama, Biopic, Gesellschaftskritik
Regie: David Lynch
Drehbuch: David Lynch
Besetzung: Anthony Hopkins, John Hurt, Anne Bancroft, Freddie Jones, John Gielgud, Hannah Gordon, Phoebe Nicholls, Michael Elphick, Wendy Hiller
Kamera: Freddie Francis
Musik: John Morris, David Lynch
Schnitt: Anne V. Coates
Review
Es ist ziemlich lange her dass ich THE ELEPHANT MAN von David Lynch gesehen habe und ich hatte ihn ganz recht klar als einen der, wenn nicht den normalsten seiner Filme in Erinnerung. Was ich jedoch nicht so deutlich in Erinnerung hatte, war der enorme moralische und emotionale Gehalt, der diesem Werk innewohnt – dazu jedoch später mehr.
Drei Jahre nahm Lynch sich Zeit für die Produktion seines zweiten Langfilms (das sind einige Jahre weniger, als er für sein Debut ERASERHEAD gebraucht hatte) und schuf ein Werk, was unter nahezu jedem inhaltlichen Aspekt anders als der Vorgänger ist: zwar auch noch in kontrastreichem schwarz-weiß gedreht, jedoch umfassender, weitreichender, von einer rein persönlichen auf eine gänzlich humanistische Dimension ausgeweitet. Der Film widmet sich der Lebensgeschichte des, in typisch abwertender Manier des 19. Jahrhunderts als “der Elefantenmensch” bezeichneten Joseph Carey (besser bekannt als John) Merrick im viktorianischen London der 1880er Jahre.
Mit Betonung auf der Authentizität der Geschichte zeichnet Lynch den Lebens- und Leidensweg eines außergewöhnlichen Mannes in allen Stationen seiner zweiten Lebenshälfte nach. In einem Zeitalter, als körperlich behinderte – kleine, große, zusammengewachsene, behaarte, etc. – noch als missgestaltete “Freaks” auf Jahrmärkten ausgestellt wurden, stellte der stark deformierte, von Tumoren, Haut- und Knochen-Wucherungen nahezu vollständig bewachsene Merrick die größte aller Attraktionen dar: “The most terrifying creature you have seen!“.
Das schaulustige Volk sah in diesem Menschen nicht mehr, als eine abartige Laune der Natur, eine Widerwärtigkeit, bei deren Anblick sich Frauen kreischend abwandten und Männer gröhlend applaudierten, ein “Ding”, über welches die Menschen zu ihrer Belustigung frei verfügen konnten, wann immer es Ihnen beliebte, auch weil ein nicht weniger schmierig als Profit-gieriger Schausteller Merrick zu seinem Besitz ernannt hatte und diesen in seinem Kabinett der Absurditäten ausstellte. So lang, bis der renommierte Arzt Frederic Treves (über die gesamte Laufzeit überragend von Anthony Hopkins verkörpert) begann ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken. Zunächst von medizinischem Interesse getrieben, befreit dieser den verschreckten, paralysierten Merrick aus der quasi-Gefangenschaft, also auch aus dem Hungern, der Prügel, etc. und beginnt ihn zu untersuchen (hier wurde ein wenig zu Film-Zwecken nach-dramatisiert, in Wahrheit begab sich Merrick wohl aus eigenem Antrieb in Treves’ Obhut).
In etwa da steigt Lynch’s Werk ein und kaum läuft der Film einige Minuten, behandelt er bereits geradezu beiläufig die ersten essentiellen moralischen Dilemmata: Will Treves einem Menschen helfen besser mit seinem Schicksal klar zu kommen, oder will er unterbewusst sich selbst dabei helfen seine medizinische Reputation auszubauen? Handelt Treves, wenn er seine “Entdeckung” direkt der Royal Medical Society vorführt, nicht auf eine etwas andere Art genauso Sensations-gierig, wie der geifernde Mob, der sich von der Faszination des (in seinen Augen) abstoßenden getrieben, durch die Freak-Show schiebt? Oder zieht mit dem Schausteller dieser gleich? Bleibt dabei nicht die Menschenwürde, welche jedem Mensch nun mal von Natur aus gegeben ist (und die ein immer zu bewahrendes Gut darstellt), genauso auf der Strecke, wie bei der Jahrmarkt-Schau? Und um die Essenz aus all diesen (nur einen Auszug aus vielen darstellenden) Fragen zu ziehen: Wird das Falsche etwas weniger falsch, wenn es aus den richtigen Gründen geschieht?
Bald wird klar, dass Dr. Treves nicht im entferntesten eine Ahnung hat, was in dem MENSCHEN Merrick vorgehen muss. “Can you imagine the kind of life he must have had?” fragt der Leiter des Krankenhauses Treves nach seinem ersten persönlichen Kontakt mit dem verängstigten Merrick. “Yes, I think I can.” erwidert Treves. Eine Antwort, die in aller denkbaren Deutlichkeit die Naivität zeigt, mit der dieser an das “Projekt” Elefantenmensch heran gegangen ist, die zeigt wie ähnlich seine Sicht noch der des gröhlenden Pöbels ist und die vor allem verdeutlicht wie wenig Treves bis jetzt den Menschen unter all den Wucherungen und Deformationen erkannt hat – weil der Reiz der medizinischen Außergewöhnlichkeit größer, als das Interesse am Innersten des betrachteten Wesens war. Doch dass die Person hinter der abschreckenden Fassade lebt, denkt und fühlt, wird Treves nach und nach immer klarer. Der medizinische Fall rückt in den Hintergrund, das Wesen des Menschens strahlt immer mehr in den Vordergrund seiner Wahrnehmung und aus dem mitleidigem fachlichen Interesse entwickelt sich irgendwann eine Art Freundschaft – vor dem Wert des Inneren, verliert die Fassade ihre Schein und wird transparent – eine essentielle Erkenntnis, die jedoch nur der der sehen will erlangt.
Was THE ELEPHANT MAN letztendlich ausmacht und warum ich in den ersten Absätzen so viel über den Umgang der Leute mit Merrick geschrieben habe, ist, wie viel dieser Film über den Menschen, also auch über jeden von uns (den einen mehr, den anderen weniger) aussagt. Der Mensch und seine Zone der Sicherheit – was er nicht kennt, fürchtet er und in der Masse aus verängstigten Gemütern schwimmt es sich immer leichter mit, als alleinig den steinigen Weg der Erkenntnis zu gehen. Lynch skizziert das qualvolle Leben eines andersartigen Individuums in einer Welt, der durch Gleichheit ein Normativ vorgegeben ist. Was leicht abweicht, wird angezweifelt, was zu sehr abweicht, wird geächtet, zum vermeintlichen Selbstschutz wählt der Unwissende leider allzu oft den Angriff. Welche tiefgreifenden psychologischen Folgen solches Handeln für den Einzelnen – das Opfer – haben kann, schaffen manche Filme nicht in zwei Stunden zu vermitteln, Lynch jedoch braucht einen einzigen Schlüsselsatz. Als Merrick bei Treves zum Tee geladen ist, ein einschneidendes Erlebnis für eine Person, die immer mit absoluter Selbstverständlichkeit nur Spott und Ächtung erfahren hat, und nach und nach immer mehr von seiner Seele preis gibt, fällt eben dieser Satz:
“I tried so hard to be good”
Merrick, der erkrankte, der sein Leben lang das Opfer der Unwissenheit und Ignoranz seiner Mitmenschen gewesen ist, macht im Endeffekt sich selbst für sein Leid verantwortlich. Tragisch, besonders weil Merrick nach einer kurzen Episode der beflügelnden Erfüllung erkennt, dass er trotz einiger im wohlgesonnener Menschen niemals wirklich dazugehören wird. Und lediglich einer von diversen tieftraurigen, weil unendlich wahren und ehrlichen Momenten in THE ELEPHANT MAN, einem Film in dem, verkörpert durch Treves’ Wandel zu echter Menschlichkeit, alle schönen und, verkörpert durch das unendlich verletzende Verhalten vieler anderer, ebenso auch alle schlimmen Eigenschaften der Menschheit versteckt sind. Ein Film der uns auffordert unsere eigene Welt- und Menschensicht zu reflektieren. Zu hinterfragen, ob wir wirklich so tolerant sind, wie wir denken. Ob wir tatsächlich hinter die Fassade schauen?
Die Ächtung eines “Freaks” als Allegorie für viel zu lang schon viel zu präsente Eigenschaft des Menschens das unbekannte zu fürchten, der Wandel eines einzelnen als positives, Mut-machendes Gegenbeispiel und nebenbei noch so viele Aussagen über die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Handelns – das trifft auf den Punkt. Untermauert wird die moralische Substanz von John Hurt’s und Anthony Hopkins’ überragendem Schauspiel, der inszenatorisch brillanten, vollkommen authentischen Version des alten Londons, sowie der überzeugenden, dem wirklichen John Merrick erschreckend ähnlich sehenden Maske. Erfolg auf ganzer Linie, Applaus Herr Lynch!
Wertung
8-9 von 10 tiefen Blicken in das Innere des Menschen
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
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2 Gedanken zu „David Lynch #6: The Elephant Man (1980)“