Trailer © by Kino Kontrovers
Fakten
Jahr: 2011
Genre: Drama, Kunstfilm
Regie: Lynne Ramsay
Drehbuch: Lynne Ramsay, Rory Stewart Kinnear
Besetzung: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell
Kamera: Seamus McGarvey
Musik: Jonny Greenwood
Schnitt: Joe Bini
Review
Tilda Swinton als strauchelnde Mutter – gesellschaftlich geächtet, am Boden zerstört und apathisch auf ihrem einsamen Weg durch das Leben. Wir wissen nicht warum, doch die Suche nach Antworten ist ein künstlerisches, schwebend-assoziatives Stück Film!
Die Geschichte eines traurigen Lebens. Die ziellose Suche nach einem Grund, nach einem “warum”? Der hilflose Kampf mit dem Unverständnis, die Qual und die Resignation. All dies zeigt WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN, dargeboten als Trip durch eine Fülle an Erinnerungen – Fragmente aus vergangenen Zeiten, die auf uns einprasseln. Sie formen ein schwammiges Bild des Damals, lassen uns erahnen wie das alles gewesen sein könnte.
Könnte. Nicht war. Denn WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN will sich bloß nicht als objektive Analyse verstanden wissen. Es wird nicht Stück für Stück rekonstruiert wie es zu einer Katastrophe kommt, um am Ende “den Schuldigen” an den Pranger zu stellen – eher stellt der Film einen Prozess der Verarbeitung dar, eine höchst subjektive Reise ins tiefste Innere einer aus der Bahn geworfenen Mutter. Was wir sehen sind Eventualitäten – mal verteufelt, mal auch romantisiert – Momente von denen das schönste, das schlimmste, oder nur noch ein schwer greifbares Gefühl geblieben ist und die nun, auf der Suche nach einem Weg die grausame Wahrheit zu verstehen, immer wieder vor Eva’s innerem Auge ablaufen. Erinnerungen – verfälscht und im Kern doch wahr.
Wie kam es dazu? Wann ging es los? Was hätte man anders machen müssen?
Fragen auf die es keine Antwort gibt, doch wir alle wissen wie sehr sie uns trotzdem zermartern können. Die Vergangenheit zu zerstückeln, zu zerlegen, in minimalen Schritten zu analysieren, nur um doch am Ende ratloser, verwirrter, oder trauriger als vorher da zu stehen ist leider höchst menschlich – und somit ist es WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN auch: Das alptraumhafte Szenario schafft es durchweg den letzten, notwendigen Funken Authentizität (also Menschlichkeit) zu bewahren und so ist das, was unterm Strich steht tatsächlich eine plausible, reell mögliche Gestalt der Realität (und daher aufgrund des möglichen Wahrheits-Gehalts das Maximum an blankem Horror).
Ich wusste nichts über diesen Film. Das hat wohl rückblickend dafür gesorgt, dass er mich nicht ein- sondern mindestens dreifach aus der Bahn geworfen hat. Um anderen das gleiche zu ermöglichen inhaltlich nur so viel:
Wie schrecklich muss es sein, wenn eine Mutter ihr Kind nicht lieben kann? Wenn sie bereits vor der Geburt das Gefühl hat ihr Leben ist vorbei, obwohl so ein kleiner neuer Mensch es auf ein nie gekanntes Level heben könnte? In sofern passt der Film auch auf den Punkt in die heutige Zeit – die medial erzeugte zwanghafte Suche nach Selbstverwirklichung, die gnadenlose Priorität von Karriere in der Lebensplanung und der unsagbare Drang nach Freiheit – das alles kollidiert bei den meisten Menschen zu sehr mit Familienplanung. Jeder hat sowieso ständig das Gefühl etwas zu verpassen und eifert auf Hochtouren den vorbeigezogenen Momenten nach. Und dann noch ein Kind? Was ist dann mit Reisen, Festivals, Karriere, Selbstverwirklichung? Von daher könnte WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN und das darin dargestellte emotionale Katastrophen-Szenario zeitgeistlich kaum relevanter sein.
Inszenatorisch und aus schauspielerischer Sicht (ALLER Beteiligten) reichen zwei Worte um eine realistische Einstufung zu wagen: Absoluter Wahnsinn. Die Art wie Regisseurin Lynne Ramsay in traumhaften, fast surrealen und durchweg höchst bedrückenden Rückblenden die Geschichte aufrollt und (wenn man nicht weiß worauf es hinaus läuft) über ganz lange Zeit schafft eine omnipräsente, düstere Vorahnung im Zuschauer-Hirn (und einen dauerhaft wachsenden Kloß im -hals) einzupflanzen ist wahrhaft großartig. Der Cast agiert ähnlich grandios.
Tilda Swinton interpretiert ihre Eva exakt: Es wäre ein leichtes gewesen sie zu hassen, denn sie benimmt sich hassenswert, egoistisch, nahezu abstoßend, aber doch tut man es nicht. Im entscheidenden Moment ist immer noch der letzte Funken Sympathie vorhanden, der uns mehr in Mitleid, denn in Hass verfallen lässt. John C. Reilly macht genau so alles richtig: Von Sekunde eins an scheint sein Wunsch nach der heilen, perfekten Welt so sehr durch, dass es immer wieder plausibel erscheint, wie er die Probleme seiner Familie einfach übersieht (übersehen WILL). “Hey Buddy” – ein wenig Spaß und alle Missstände sind ausgeräumt – was ich nicht sehe, existiert nicht. Und Ezra Miller? Aller guten Dinge sind drei, ich kenne ihn nun erst aus zwei Filmen, aber liefert der Junge nochmal mit so einer Wahnsinns-Präsenz wie hier (oder auch in PERKS OF BEING A WALLFLOWER) ab, dann ist er mein Stern am Nachwuchshimmel!
Mein Vorschlag: Nichts lesen, Film besorgen, ansehen. Langsam glaube ich wirklich, dass 2012 alle bevor die Mayas kommen noch mal ihr bestes geben wollten – ein ziemliches Ausnahme-Filmjahr
Wertung
9 von 10 ekstatischen Tänzen in Tomatensoße
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
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