Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by Capelight
Fakten
Jahr: 1977
Genre: Horror, Mystery, Kunstfilm, Surrealismus
Regie: David Lynch
Drehbuch: David Lynch
Besetzung: Jack Nance, Charlotte Stewart, Allen Joseph, Jeanne Bates, Judith Roberts, Laurel Near, Jack Fisk
Kamera: Frederick Elmes, Herbert Cardwell
Musik: David Lynch
Schnitt: David Lynch
Review
Es beginnt. Ein seltsamer Planet schwebt einsam durch die Weiten des Universums. Karg wirkt er, lebensfeindlich. Langsam nähern wir uns, nehmen Kontakt aus. Er fühlt sich kalt an. Schroff. Ein entstellter Mann erscheint auf dem Schirm, eingepfercht in einem kleinen Häuschen, von eiterigen Malen übersät. Später wird sich die Frage stellen, ob dies vielleicht der Marionettenspieler über den Lebenden ist – der, der die Hoffnung stielt und uns ins Verderben stürzen will. Unheilvoll und krachend legt er einen Hebel um und gibt so den Startschuss für einen Trip ins tiefste, dunkelste Unterbewusstsein. Für eine Reise, die Ängste zu Tage fördern wird, nur um sie in bizarre, verstörende Bilder zu transformieren.
Nach mehreren künstlerischen Bewegt-Experimenten und Kurzfilmen, realisiert David Lynch 1977 ERASERHEAD, seinen ersten Langfilm, der nach endloser Entstehungsphase, teils noch während Lynchs Studium, inklusive reichlich Kriegen mit Produzenten (die dazu führten, das Lynch den Film Jahre später dann zu Teilen selbst produzierte), endlich das Licht der Welt erblickte – und dieser Welt direkt den Spiegel vorhielt, um sie von ihrer abgründigsten Seite zu zeigen.
Wir lernen unseren Protagonisten Henry Spencer kennen. Orientierungs- und ziellos stolpert er durch eine perverse Karikatur unserer Welt, die so unwirklich und abstoßend ist, dass sie selbst durch die trennende Distanz der vierten Wand kaum zu ertragen ist. Berge von Schutt sind umgeben von Schmutz und Schlammpfützen, Industrie-Ruinen dominieren den Raum, immer und überall liegt ein ohrenbetäubendes Dröhnen in der Luft. Nicht eine Sekunde möchte man mit Henry tauschen und nicht einen einzigen Schritt an diesem Ort beschreiten. Völlig unerwartet erfährt er dann, dass er Vater geworden ist – eine Veränderung die sein Leben in kaum vorstellbarer Weise beeinflusst.
Was dann in ERASERHEAD folgt, entzieht sich eigentlich jeglicher Beschreibung, vor allem aber – hat man es noch nicht gesehen – jeglicher Vorstellung (außer der eines David Lynchs). Sein frühgeborenes Kind ähnelt nicht im Entferntesten einem menschlichen Wesen, das Leben damit bekommt einen grotesken Charakter und schnell beginnt Henrys Realität zu bröckeln, Träume und Visionen plagen ihn, seltsame Ereignisse häufen sich.
Was die Zuschauer daraus machen, bleibt ihnen selbst überlassen. Auf der einen Seite kann man Lynchs beklemmenden Bilder- und Klangrausch einfach auf sich einwirken lassen, sich in diese abgründige Welt begeben und die Sinne daran berauschen. Beim ersten Ansehen ist wahrscheinlich kaum mehr möglich, zu dominant und ungewohnt ist die überbordende Fremdartigkeit dieser schwarz-weißen Welt. ERASERHEAD fordert und wenn die letzten Bilder über den Schirm geflimmert sind, bleibt eine ratlose Verstörtheit zurück. Auf der anderen Seite bietet der Film einen immensen Spielraum für ausführliche Interpretation, denn alles in ihm ist ein Symbol.
ERASERHEAD ist von einer einmalig starken Bildhaftigkeit durchzogen, die schreiend dazu auffordert den Film als große Allegorie für tief sitzende Gefühle zu lesen. Auf wahnsinnige Art greift Lynch mentale Abgründe auf und jongliert mit bedrückenden, existenziellen Ängsten. Henrys Angst davor, mit diesem plötzlichen neuen Leben nicht fertig zu werden. Dem Druck nicht stand zu halten. Davor eine Familie zu gründen, ein Kind zu bekommen und es pflegen zu müssen. Seine Probleme damit, ohne es zu wollen in diese Situation gerutscht zu sein und nun nie gekannte Verantwortung übernehmen zu müssen. Das Kind lieben zu müssen, egal wie es ist und sich entwickeln wird, das aber vielleicht gar nicht zu können. Durch das Konstrukt Familie und den Status des plötzlichen “erwachsen seins“, in seiner Entwicklung und Entfaltung eingeengt und unfrei zu werden.
Henrys Kampf mit diesen inneren Dämonen reicht weit. Die Situation überfordert ihn so elementar, seine Verweigerung gegenüber dem neuen Leben ist so groß, dass ihn seine Visionen von Ehebruch, über Mord, bis hin zu Selbstmord tragen. Was real und was imaginär ist, verschwimmt schleichend immer weiter. Der blanke Horror bahnt sich seinen Weg – aus dem Unterbewusstsein, ins Unterbewusstsein und von dort in jede Zelle des Körpers.
Natürlich kann man ERASERHEAD auch für bare Münze nehmen – dann kommt ein ziemlich schräger Film über einen ebenso schrägen Typen in einer beängstigend dröhnenden Welt heraus, der mit seiner verstörten Freundin ein Kaulquappen-förmiges Kind bekommt und sich zunehmend in bizarren Alpträumen verliert. Punkt. Aber mal ehrlich: ist das in Anbetracht der vielseitigen Interpretationsmöglichkeiten nicht ziemlich langweilig? Und wichtiger: will Lynch wörtlich verstanden werden?
Ganz sicher nicht, denn die Ergründung menschlicher Abgründe und der Grenzen der Wahrnehmung, welche sich so konsequent durch Lynchs Werk zieht, nimmt hier bereits vollkommen meisterhaft ihren Ursprung. ERASERHEAD ist ein Film, dem man keine Schlagworte oder klassische Genres zuordnen kann, weil er sich jeder Einstufung gekonnt entzieht und in seiner Eigenheit völlig konkurrenzlos bleibt. Doch geht man von der Wirkung des Werkes aus, so ist es in seiner wahnsinnigen Welt aus schrägen Kontrasten, Alpträumen und obskuren Wesen eben auch zu einem großen Teil einer der effektivsten Horrorfilme überhaupt. Einer der mitnimmt, verstört, zum Reflektieren einlädt. Der unwirkliche Dinge so selbstverständlich verkauft, dass Realität als Begriff vollkommen verschwimmt. Und der mich jedes Mal wieder atemlos zurück lässt!
Wertung
10 von 10 filetierten Hühnern (eindeutig einer meiner Lieblingsfilme!)
Veröffentlichung
ERASERHEAD ist bei Capelight Pictures als BluRay und DVD erschienen.
Weblinks
IMDB
OFDB
MOVIEPILOT
ROTTEN TOMATOES
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):
7 Gedanken zu „David Lynch #5: Eraserhead (1977)“