Trailer © by Universal Pictures Germany GmbH
Fakten
Jahr: 2002 – 2014
Genre: Coming-Of-Age, Episodenfilm, Drama
Regie: Richard Linklater
Drehbuch: Richard Linklater
Besetzung: Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei Linklater, Marco Perella, Steven Chester Prince,
Kamera: Lee Daniel, Shane F. Kelly
Musik: –
Schnitt: Sandra Adair
Review
Zu sagen, BOYHOOD sei ein außergewöhnliches Filmprojekt, ist vielleicht die Untertreibung des (filmischen) Jahrhunderts. Kind sein, Aufwachsen, Jugendlicher sein, zum jungen Erwachsenen werden – das wurde alles schon hundert-, vielleicht tausendfach gezeigt. Probleme mit den Eltern, Probleme mit den Mitschülern, das erwachen der ersten Liebe, ebenso ihr scheitern – auch das kennen wir zur Genüge. Aber immer nur in kleinen Dosen. Sonst zeigten die jeweiligen Filme zumeist Phasen von Wochen oder Monaten, manchmal Jahren, oder eine Zweiteilung in eine Epoche der frühen Kindheit und noch eine Epoche der Jugend.
Aber Richard Linklater will mehr.
Er will das Aufwachsen von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter zeigen.
Kontinuierlich.
Mit allem was dazu gehört:
Höhen und Tiefen.
Und vor allem: Der Normalität des stetigen Lebens.
Das unterscheidet BOYHOOD von all dem, was sonst in diesem Genre (wenn man es so nennen will) des Coming-Of-Age-Films abgehandelt wird. Das Leben ist nicht nur von Highlights und Film-würdigen Momenten durchzogen, es ist kein durch designtes Skript nach dem dritten Rewrite mit klassischem Aufbau, Spannung, Twist und Happy-End. Es ist einfacher und gleichzeitig millionenfach komplexer als das, denn es ist, schlicht und einfach, das Leben. Mit allen Problemen die dazu gehören, der geistigen und körperlichen Entwicklung die ein Jeder durchläuft, den Stolpersteinen im Weg, den Selbstzweifeln, der Liebe, der Gewalt, dem Zögern und dem vorwärts gehen.
Das Leben.
Und das hat Linklater hier über 12 Jahre kontinuierlich verfilmt. Das Leben einer fiktiven Familie mit Fokus auf der Kindheit und Jugend (eben “Boyhood”) des Sohnes Mason Jr. Und auf dem Wege der Schilderung von Masons Erwachsenwerdung streift, umwandert, trifft und beackert Linklater so ziemlich alles, was in einem Jungen-, Geschwister-, Familien- und Schüler-Leben passiert und Relevanz hat – ebenso wie diverse gesellschaftliche und soziale Themen. Eine Tiefe, die mal ganz offenkundig, mal subtil, fast versteckt daherkommt, aber alles überspannend vorhanden und dauerhaft fühlbar ist.
Olivia und Mason Senior (wie zu erwarten, beide überdurchschnittlich toll gespielt von Patricia Arquette und Ethan Hawke) sind geschieden, sie hat Mason Jr. und seine Schwester Samantha in ihrer Obhut, er kommt zu Anfang des Films vom Arbeiten aus Alaska zurück und versucht irgendwie den Draht zu seinen Kindern zurück zu erlangen. Oberflächlich cool, aber darunter höchst unsicher und unbeholfen. Allein was in diesen ersten Jahren zwischen den Zeilen über die Hürden zerrissener und in neuer Konstellation zusammengesetzter Familien erzählt wird, ist sensationell. Die Mutter, die zu früh Kinder bekam und daher mit sich und ihrer Lebensplanung überhaupt nicht im Reinen ist, allerdings, getrieben von dem unbändigen Wunsch es für alle besser zu machen, versucht ihr Leben durch ein verspätetes Studium umzukrempeln. Unendliche Last auf einem Paar Schultern (also einem zu wenig). Auf der anderen Seite der Vater, der keine Ahnung hat wo sein Platz im Leben ist, der hilflos versucht jedes zweite Wochenende zu nutzen, um ein fester Teil des Lebens seiner Kinder zu werden (und trotz neuem Mann der Mutter zu bleiben), der sich selbst sucht und noch längst nicht gefunden hat, der ein Vater/Sohn-Verhältnis sucht, was sich höchst schleppend entwickelt, aber doch irgendwann eine fast rührende Natürlichkeit erreicht hat.
Familienleben mit allen Problemen und Tücken.
Aber so schwer das klingen mag, Linklater malt nicht schwarz, denn all diese Schwierigkeiten springen nicht offensiv ins Gesicht, sondern folgern viel mehr aus dem Handeln der Figuren, da dieses Handeln eine selbstverständliche Antwort auf die Situation in der sie Leben ist – im Kontrast dazu lebt BOYHOOD aber auch von zahlreichen schönen Momenten und Gesten, einer tollen, Lebens-bejahenden Grundstimmung und einer gesunden Prise leichtem Humor. Die Komödie des menschlichen Daseins – nichts hier ist offensichtlich auf Gags, Pointen oder Schenkelklopfen ausgelegt, trotzdem motiviert der Film oft zum Schmunzeln und Lachen, da ja bekanntlich Normalität und Skurrilität nah beieinander liegen.
Außerdem ziehen sich Freundschaft, Liebe und gegenseitige Hilfe als ebenso zentraler Faden durch das Werk. Olivias Freundin nimmt die Familie in schwierigen Zeiten auf, ohne einen Moment zu zögern, ihre Mutter hilft ihr durch die Belastung als studierende Alleinerziehende, zwischen Mason, Samantha und ihren Stiefgeschwistern entstehen schnell innige Freundschaften. All das spricht für das Menschsein. So wie einiges in BOYHOOD auch dessen unangenehme Seiten beleuchtet. Linklater will uns hier das einzig richtige Vermitteln: Das Leben ist nicht nur schlecht, genauso wie es nicht nur gut ist. Das Symbol eines Pendels, was von einer Seite zur anderen schwingt, trifft es vieleicht am besten. Von Enttäuschung zur Beflügelung, zurück zur Wut und wieder hin zur Liebe – alles ist ein auf und ab, so ist das und so bleibt das.
Ein weiterer zentraler Punkt liegt auf der Hand: BOYHOOD erzählt natürlich vordergründig vom schwierigen Prozess des sich-selbst-findens (in gewisser Weise sogar aller Beteiligten). Mason kommt in die Pubertät und wird zum introvertierten Aussenseiter, weil er weder so recht weiß wer er ist, noch wo es mit ihm hin gehen soll – er ist antriebslos, ziellos, weit vom Finden seiner Identität entfernt, sucht nach Vorbildern und einem Weg den er beschreiten kann. Als stiller Einzelgänger schiebt er sich durch die Gänge seiner Schule, über die Straßen seines Wohnortes, kämpft sich schleppend durch Gespräche und empfindet für den Rest der Menschen überwiegend Unverständnis. Ein Apfel der mal wieder nicht weit vom Stamm gefallen ist, suchte doch sein Vater auch selbst noch Jahre lang nach seiner Bestimmung. Auf der anderen Seite glänzt Mason’s Schwester durch Engagement und gute Noten – ganz wie die Mutter.
Man könnte noch weiter in die Tiefe ergründen, welche Themenkomplexe Linklater hier in unterschiedlichster Gewichtung verpackt hat, denn es sind noch einige, aber umfassend ist das wichtigste an BOYHOOD, dass der Film es schafft ein intensives Gefühl zu vermitteln. Ein Gefühl des Aufwachsens, zu dem trotz (von Mason’s Werdegang) völlig verschiedener Vergangenheit eine umfangreiche Schnittstelle besteht. Das Erinnerungen wach ruft und für jeden persönlich die Frage in den Raum stellt: “Wie war das damals?”. Diese Natürlichkeit erreicht Linklater auch dadurch, dass er nicht mit seinem tollen Filmkonzept (12 Jahre Drehzeit) hausieren geht und es demonstrativ zur Schau stellt. Im Gegenteil, die Zeitsprünge sind völlig selbstverständlich eingearbeitet, gerade zu Beginn braucht es manchmal zwei Blicke, um zu erkennen, dass wieder ein bisschen Zeit vergangen ist – meist sind es Frisuren, die im schleichenden Alterungsprozess den offensichtlichsten Anhaltspunkt liefern.
12 Jahre Produktion sind eine lange Zeit, vor allem wenn der Film in dieser Zeit konstant entwickelt wird. Dass sich alle Beteiligten in dieser Spanne extrem entwickeln, ist klar. Und BOYHOOD wirkt, als ob jede der Figuren auf der Leinwand auch zu einem großen Teil von der Entwicklung des dahinter stehenden Schauspielers gelenkt wurde. Als ob der Charakter jeglicher Hauptfigur nicht bloß eine Skript-Entscheidung, sondern vor allem das Produkt der charakterlichen und sozialen Entwicklung von Ellar Coltrane, Ethan Hawke, Patricia Arquette, Lorelei Linklater (und natürlich AUCH Richard Linklater, der im Zuge seiner persönlichen Entwicklung auch immer wieder schöne Kommentare auf das Zeitgeschehen einstreut) ist. Und nachdem dieser Prozess der Entwicklung bereits zweieinhalb Stunden über die Leinwand schlich, rannte und schlurfte, fragt man sich doch irgendwann, ob nicht zuvor schon zwei Mal der richtige Moment zum Abschluss gekommen gewesen wäre. Als er dann da ist, wundert man sich über den eigenen Zweifel. Denn BOYHOOD endet genau da wo er muss.
Auf der perfekten Note.
Da wo die Vergangenheit endet und die Zukunft beginnt.
Linklater hat riskiert, gewagt und gewonnen.
Das ist Kinogeschichte!
Wertung
10 von 10 miterlebten Jahren
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):
Klasse geschrieben! Repräsentiert meine Meinung in wirklich jedem Satz! Musste auch sehr sehr oft lachen wenns nichts zu lachen gab, weil mir Szenen so bekannt aus meinem eigenen Leben waren! Was mir an Boyhood außerdem noch sehr gefallen hat war, dass die Umgebung ebenfalls altert. Es kommen jedes jahr andere Trends zum Vorschein, die wir auch miterlebt haben, wie bspw. die Harry-Potter-Bücher. Einfach klassse!
Danke! Das mochte ich auch, dieses authentische einbringen von Zeitgeschehen. Muss den endlich ein zweites mal gucken
Ne Zweitsichtung hab ich auch noch vor mir einzig mit dem Ende war ich nicht zufrieden …