Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by Pierrot Le Fou
Fakten
Jahr: 2015
Genre: Surrealer Film, Komödie, Meta-Kino
Regie: Quentin Dupieux
Drehbuch: Quentin Dupieux
Besetzung: Alain Chabat, Jonathan Lambert, Élodie Bouchez, Kyla Kenedy, Jon Heder, Eric Wareheim, John Glover, Matt Battaglia, Susan Diol, Jonathan Spencer, Bambadjan Bamba
Kamera: Quentin Dupieux
Musik: Quentin Dupieux
Schnitt: Quentin Dupieux
Review
Nachdem er Amok laufende Autoreifen durch die Wüste rasen ließ und völlig selbstverständlich Welten erschuf, in denen es in Büroräumen regnet und Bäume aus dem Nichts zu Palmen werden, ist Quentin Dupieux, dem ein oder anderen vielleicht noch als Elektro-Produzent Mr. Oizo bekannt, mit einem neuen Werk zurück. RÉALITÉ heißt das gute Stück, steht seinen Vorgängern in punkto verdrehter Andersartigkeit nicht im Geringsten nach und garantiert vor allem eins: wer Film als direktes Abbild der Titel-gebenden Realität versteht, ihn gar als ein rational unbedingt zu erklärendes Konstrukt auffasst und immer nach dem definitiven Verständnis, also einer klar zu entschlüsselnden Auflösung des Gesehenen sucht, wird an diesem Werk wohl (erneut) schier verzweifeln. Dupieux stellt Ausdruck und Stimmung über alles und geht im Resultat derart eigensinnig mit dem Medium als Ganzen um, dass klassische Ansätze der Beschreibung scheitern, es also bereits schwer fällt auf den Punkt zusammenzufassen, worum es überhaupt geht.
Da ist ein junges Mädchen, was in den Eingeweiden eines erschossenen Wildschweins versteckt, eine blaue Videokassette findet. Da ist ein Dokumentarfilmer der genau dies in Form seines neuesten Werkes einem Produzenten vorstellt, welcher jedoch vor allem zu lange Einstellungen bemängelt. Und da ist der Camera-Operator 3 einer so bizarr wie öden Kochsendung, der bei selbigem Produzenten einen B-Movie über tödliche Fernsehgeräte pitcht und auf die Suche nach dem ultimativen Todes-Grunt geschickt wird. All dies gehört grob zusammen, kreuzt, vermengt und schichtet sich in multiplen Wahrnehmungs- und Realität-Ebenen und ergibt ein irrationales Konstrukt, das mit Logik nicht erklärbar und über einen direkten Abgleich mit unserer gängigen Realität nicht zu verarbeiten ist, weil der einzige Sinn vielleicht ist, mit Ansätzen, Möglichkeiten und Wirkung von Film zu spielen. Warum in einem Medium, welches grenzenlos sein könnte, immer artig vor selbst errichteten Mauern anhalten, anstatt mal mit Gas durch zu brettern? Oder noch besser: Einfach mit dem jeweiligen Auto abheben und die Grenz-Pfeiler überfliegen – und zwar, weil man es kann. Weil Film eben alles kann (und doch meist so beschränkt in der Wahl seiner Mittel agiert). Doch nicht Dupieux – der entzieht sich gekonnt den gängigen Formalismen, liefert in Projekten, die vollständig seiner kreativen Kontrolle unterliegen, eine eigene Vision dessen, was Film leisten kann und soll, und reflektiert ganz beiläufig vielfältige Ebenen des Schein und Seins.
Wo beginnt Realität und wo endet sie?
Derartig selbstverständliches außer Acht lassen des gängigen Regelwerks, mutet zunächst natürlich skurril an – eine Wirkung, die RÉALITÉ bereits über die offensichtliche Ebene einleitet: Dupieux setzt audiovisuell auf einem klaren, hoch aufgelösten Stil, baut aber von kauzig ausgestopften Tieren bis zu Röhren-Fernsehern immerfort aus der Zeit gefallene Retro-Elemente ein, so dass die gezeigte Welt zeitlich nicht zu verorten ist. Sie wirkt unserer eigentlichen Realität entrückt. Und wieder die Frage: Warum immer nur ein Abbild des Bekannten zeigen, wenn eine spannende, leicht verschrobene Version davon im Kopf eines Filmemachers darauf wartet entdeckt zu werden? Inhaltlich legt die zunehmende Verschmelzung von tatsächlicher Realität der Figuren, unzuverlässiger Wahrnehmung und Traum-Logik nach: Menschen telefonieren mit sich selbst (eine wundervolle Referenz an Lynch’s LOST HIGHWAY), leiden an imaginären Hautkrankheiten, die sich aus ihrem Kopf heraus auf gespiegelten Versionen ihres Egos manifestieren und ein Film im Film bringt zusammen, was nicht zusammen gehören kann.
“Das klingt jetzt sicher schräg, doch ich glaube wir sind dieselbe Person.“
Auf angenehm befreite Weise mutet RÉALITÉ höchst surreal und doch weder sinnlos, noch austauschbar an. Was hier verbaut wird, soll und muss so sein: Neben feinen meta-Parodien exzentrischer Moderatoren, geleckter Produzenten und verträumter Regisseure – in Summe wird hier klar der Prozess des Filmemachens reflektiert – trägt eine bizarre Komik durch die eigensinnige Welt, wie sie nur Werken, die wahrlich von Herzen kommen, innewohnt. Dupieux beherrscht die Kraft der überzeichneten Situationskomik bis ins letzte, die Darsteller wissen ihren Rollen die notwendigen Nuancen abzugewinnen und RÉALITÉ mausert sich schnell zum außergewöhnlich ergiebigen Genuss. Weil er dazu einlädt, der Welt der Regeln zu entschweben und der ironisch gewählte Titel etwas andeutet, wozu der Inhalt schlussendlich aktiv auffordert: Film einfach mal Film sein zu lassen. Sich vom lähmenden Korsett des Realismus frei zu strampeln, um Wirkung und Wege der Irrationalität zu erforschen, oder auch einfach nur auf sich wirken zu lassen. Wundervoll.
Wertung
8 von 10 selbst-abbildenden Filmen im Film
Veröffentlichung
REALITY ist am 20. November bei Pierrot Le Fou als Limited Mediabook (BD + DVD), BluRay und DVD erschienen. Im Bonusmaterial befinden sich: Interviews, Trailer. Die Discs kommen im Wendecover ohne FSK Logo.
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):