Titelbild, Trailer und Bildausschnitte © by Capelight Pictures
Fakten
Jahr: 2011
Genre: Kunstfilm, Spiritueller Trip, Mystery
Regie: Gaspar Noé
Drehbuch: Gaspar Noé, Lucile Hadzihalilovic
Besetzung: Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy, Olly Alexander
Kamera: Benoît Debie
Musik: Thomas Bangalter
Schnitt: Gaspar Noé, Marc Boucrot, Jérôme Pesnel
Review
Für jemandem, der diesen Film noch nicht gesehen hat, ein kurzer Hinweis: Man kann nicht recht von SPOILERN sprechen, denn was in ENTER THE VOID konkret (im Sinne eines Plots) passiert, ist eigentlich sekundär – primär zählt eher die Art wie es passiert – aber hier sei dennoch ich eine dezente Spoilerwarnung ausgesprochen, sowie der Hinweis, dass ich versuche zu ergründen, wie der Film zu verstehen ist. Ich glaube, das kann bei der Sichtung dieses angenehm sperrigen Werkes vielleicht sogar hilfreich sein, denn die Ansätze werden zwar im Film angedeutet, aber etwas Wissen über das in Dialogen transportierte hinaus kann nicht schaden. Los gehts..
ENTER THE VOID ist kein “Film” und aus diesem Grund kann man sich ENTER THE VOID nicht einfach ansehen. Man muss – und das ist die einzige Möglichkeit wie diese fantastische und spirituelle Reise, die mich immer noch sprachlos dasitzen lässt, funktionieren kann – ihn erleben. Dies und nichts anderes will Regie-Querulant Gaspar Noé hier erreichen: Die Distanz, also die Undurchdringbarkeit von Bildschirm und Leinwand, die räumliche und psychische Trennung zwischen uns und dem was wir zu sehen bekommen, vollständig aufheben. Er will das “sehen” in “fühlen” verwandeln, uns nicht mehr nur einen Protagonisten und dessen Reise vorsetzen, sondern es zu unserer Reise werden lassen.
Ganz grob gesagt beschreibt der Film die letzten Minuten eines körperlichen Lebens, den Vorgang des Sterbens, die Minuten in denen der Körper verschieden, die Seele aber noch in ihm ist, dann die Zwischenzustände zwischen Tod und der Wiedergeburt (da die Seele keine Erlösung findet), die Rastlosigkeit der Seele, da diese zu sehr an der materialisierten Welt hängt, um ihre zahlreichen Chancen auf Übergang in einen höheren Zustand wahrzunehmen und Schlussendlich die Wiedergeburt.
Das gelingt ihm in einer Form, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Schier unglaublich. Gott sei dank hatte ich im Vorfeld bereits aufgeschnappt, dass es nicht schaden kann sich mit dem BARDO THÖDRÖL, dem Tibetischen Buch der Toten zu beschäftigen. Interesse halber hatte ich das damals direkt getan, so dass mir die Grundzüge der buddhistischen Theorie des Sterbens, der Übergangszustände und des Wiederauferstehens bekannt waren. Bevor ich die Disc dann endlich in den Player schob, wurden diese Basisinfos noch mal aufgefrischt und die Reise konnte losgehen. Gott, was hatte ich doch keine Ahnung vom mich erwartenden.
Zweieinhalb Stunden später fühlte ich mich erleuchtet und hatte das beflügelnde Gefühl eines zuvor nie für möglich erahnten, audiovisuellen, ins spirituelle reichenden Erlebnisses. Aus jeder Sicht – Technische Machart, konzeptuelle Umsetzung des eigentlich Unzeigbaren, Sogwirkung, Tiefgang (und ich meine bis ganz tief ins Innerste) und vor allem die Projektion einer filmischen Erfahrung IN den eigenen Kopf, nicht nur bis kurz hinter die Netzhaut – ist ENTER THE VOID unglaublich.
Schon beim Schauen des Films (jedoch nur sporadisch – paralleles Nachdenken stört extrem den aufkommenden Sog) und sehr lange im Nachgang, mache ich mir jetzt bereits Gedanken, welche filmischen Sequenzen in etwa welchen “Zwischenzuständen” des im BARDO THÖDRÖL genannten Prozesses entsprechen könnten. Und ob sie das überhaupt sollen? Denn wann und wo die Phase 1 (der Moment vor dem Tod – der Geist erstrahlt in höchstem Glanz) angesiedelt ist, kann verschieden interpretiert werden. Da Noé durch die Verkettungen seiner Filme, über musikalische Parallelen und Anfangssequenzen, im Begriff ist ein äußerst stringentes Gesamtwerk zu schaffen, verstehe ich seine Inszenierung wie folgt: Bereits bevor Oscar stirbt erlebt er einen DMT Rausch in seinem Appartement – dies stellt den ersten Zwischenzustand des Übergangs dar, sein Geist agiert dort bereits schon wie beim Tod (Zitat Alex: “You know what DMT ist? It’s the chemical your brain releases when you die. DMT lasts only 6 minutes, but it feels like eternity”). In Kombination mit Noé’s “Thesen” zur Irreversibilität ALLER Dinge finde ich den Ansatz spannend, Oscar’s Tod nicht auf den Moment des erschossen werdens zu reduzieren, sondern in Kombination mit seinem Konsum psychedelischer Drogen auf einen längeren Zeitraum auszudehnen. Ansichtssache. Auf jeden Fall gibt es Hinweise auf alle drei Zustände des Übergangs in ENTER THE VOID und das wirklich in wahnsinniger Umsetzung!
Besonders intensiv gestaltet sich hier die (potentielle) Phase 3 (Zwischenzustand des Werdens – das eigene Leben läuft vor dem inneren Auge ab). Wie Noé in einer konsequenten Third-Person Perspektive den Geist des Protagonisten, mit durchgehendem Blick auf dessen Hinterkopf, sein Leben erneut durchleben lässt, sich selbst beim Leben des eigenen Lebens zusehen lässt, ist meisterhaft und nichts anderes! Nicht nur die Wahl der Perspektive, sondern vor allem die Art, wie er Zeitebenen verschmelzen lässt, zwischen Kindheits- und späteren Szenarien springt und so im Grunde genommen trotz realer Erzählzeit alles gleichzeitig passieren lässt. Das Leben in einen infinitesimal kleinen Moment gepresst. Mir fehlen die Worte. Ich neige kaum zu Superlativen, doch meine sagen zu können, dass dies die beste Sequenz ist, die ich jemals in einem Film sehen durfte!
Aber auch der weitere Verlauf – die rastlose Reise der Seele, das Schweben über der Stadt, die Beobachtung der Liebsten, ohne eingreifen und vor allem ohne loslassen zu können – hält diese Klasse aufrecht. Von vielen als viel zu lang, von mir wenn überhaupt als zu kurz angesehen, zeigt Noé uns den Rest des Films in gleitenden Vogelperspektiven (die wir weiterhin in der Egoperspektive erleben), wilden Kamerafahrten und ständigem Eintauchen in das gleißende gelbe Licht. Die letzten Tage der traurigen Seele in dieser Welt, unfähig den Weg ins Nirvana anzutreten. Diese lange Passage läuft keineswegs nur vor sich hin – sofern man es schaffen konnte in diesen Sog aus Bildern und Klang einzutauchen, fällt auf wie die Verzweiflung immer präsenter wird, die Wahrnehmung des nächtlichen Tokyos immer fremder und die Reise (mit Gipfel in der pulsierenden, bedrückend-psychedelischen Darstellung des Love-Hotels) immer mehr zum (Zitat Alex: “Horror”-)Trip wird. Die Wiedergeburt wird der einzige mögliche Ausweg aus dieser Gefangenschaft.
In der buddhistischen Lehre wird (soweit ich das mit dem Micro-Wissen, was ich mir bis jetzt filmbedingt angelesen habe, verstehen konnte) beim Übergang zwischen Tod und Erlösung/Wiedergeburt ein Zustand angestrebt, in dem Bildlichkeit ihre Rolle verliert. Ist es also völlig falsch, oder sogar größenwahnsinnig zu versuchen dies zu verfilmen? Mag sein, doch für einen westlichen nicht-Buddhisten wie mich ist Noé’s Lösung konzeptuell, sowie technisch brillant und das reicht als Daseinsberechtigung, oder?
Sowieso ist technische Brillanz ein tragendes Element in ENTER THE VOID. Liebes Hollywood, lass dir gesagt sein: Für diese 154 Minuten wurden digitale Effekte erfunden, das ist das Nonplusultra, besser kann man sie nicht nutzen und besser werden sie nie wieder genutzt werden (schon wieder Superlative). Diese vollkommen entfesselte Kamera – ein Genuss und ich mag mir wirklich nicht ausmalen wie das alles gedreht wurde. Es beeindruckend zu nennen, würde den gebotenen, absolut einzigartigen Bildern nur bedingt gerecht – da fehlen einfach die nötigen Worte der Beschreibung!
Ich könnte noch weiter schwelgen. Wahrscheinlich ewig, bis ein Roman zu ENTER THE VOID entstanden ist, aber zuletzt will ich nur noch kurz drauf eingehen, wo ich trotz so viel Begeisterung noch kleinste Abstriche mache und das Werk somit vorerst noch nicht als vollkommen perfekt einstufen würde. Ganz konkret: Die allerletzte Szene erschien mir unnötig und in gewisser Weise entmystifizierend – das wäre als offenes Ende passender gegangen, worauf es hinaus läuft ist eh jedem klar. Vielleicht liegt, aufgrund der durchgehenden Unschärfe, ja sogar eine starke Ambivalenz darin, aber ich war schon zu benommen um es zu bemerken? Macht nichts, denn da ich ENTER THE VOID noch oft sehen werde, wird sich da sicher noch eine Meinung zu entwickeln.
Abschließend nur noch so viel: Ich bin unglaublich dankbar, dass dieses Werk nicht an meinem Denkapparat abgeprallt ist, sondern ich diese Reise antreten durfte. Empfehlung für jeden der jetzt vielleicht Interesse hat: Beim schauen “die Seele baumeln lassen” und einfach tragen lassen – keine unnötigen Gedanken, das Grübeln auf später verschieben, den Geist öffnen und einfach wirken lassen. Denn dann erlebt ihr etwas einzigartiges, was es in dieser Form wohl noch nie gegeben hat.
Wertung
9 von 10 Stadtrundfahrten im Seelen-Mobil
Veröffentlichung
ENTER THE VOID ist bei Capelight Pictures als limitiertes 3-Disc Mediabook (incl. BluRay- und DVD-Version des Films, 24-seitigem Booklet mit gedrucktem Gaspar Noé-Interview und Bonus-DVD mit Deleted-Scenes, Making-Of der Special-Effects, Kurzfilm ENERGIE!, Trailershow und der Arte-Episode DURCH DIE NACHT MIT HARMONY KORINE UND GASPAR NOÉ), sowie regulär als BluRay, DVD und VoD erschienen.
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
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5 Gedanken zu „Film: Enter The Void (2011)“