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(Neuer) Deutsch(sprachig)er Genrefilm #12: Auf Kurze Distanz (2016)


Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by ARD


Fakten
Jahr: 2016
Genre: Cop-Thriller
Regie: Philipp Kadelbach
Drehbuch: Oliver Kienle, Holger Karsten Schmidt
Besetzung: Tom Schilling, Edin Hasanovic, Emilia Schüle, Lazar Ristovski, Aleksandar Jovanovic, Jens Albinus, Sandra NedeleffMarko Dyrlich Fortunato Cerlino
Kamera: Jakub Bejnarowicz
Musik: Michael Kadelbach
Schnitt: Constantin von Seld


Review
Wie tief muss man graben, um zum Kern einer Sache vorzudringen? An die Basis zu kommen, damit man alles darüberliegende zu Fall bringen kann? Und wo ist der Punkt, an dem man aufhören sollte weiter zu machen, weil, zunächst noch unbemerkt, nach und nach die lebensrettende Fähigkeit schwindet, die Grube wieder zu verlassen? “In too deep“ ist der amerikanische Terminus zur Beschreibung dieses Zustands, der von jeher ein beliebtes Objekt des Genre-Kinos darstellt. Undercover-Ermittler, denen die Sache über den Kopf wächst, die eben tatsächlich zu tief drin stecken, um aus freien Stücken den Fängen der kriminellen Organisation zu entkommen, in die sie eingebunden wurden, konnten wir von DONNIE BRASCO über INFERNAL AFFAIRS, bis zu MIAMI VICE in unzähligen Werken bewundern – mal mehr, mal weniger geglückt. Was die meisten dieser Filme jedoch eint: Sie entstammen nicht dem deutschen Raum – denn auch wenn hier in Form von TATORT– & POLIZEIRUF-Episoden, oder anderen TV-Krimis sicher schon tausendfach verdeckte Cops auf Mattscheiben ermittelten, so sind die großen, nachhaltigen Genre-Meilensteine bis jetzt ausgeblieben.

Das Zeug zum Welthit hat AUF KURZE DISTANZ, dieser jüngste Vertreter des Sujets wahrscheinlich ebensowenig, wie er ein reiner, auf Geradlinigkeit reduzierter Genrefilm ist und doch sorgt es, besonders unter dem Aspekt, dass öffentlich-rechtliche Sendeanstalten ihn produzierten, für eine unglaubliche Überraschung, wie überdurchschnittlich stark er ist. Von deren sonst so zahmer Vorgehensweise ist hier nämlich nichts zu spüren: Tom Schilling taucht, schauspielerisch wie üblich brillant, in eine verborgene Parallelgesellschaft ab – es geht um Wett-Manipulation, um Schiebung von Sportereignissen, um kriminelle Vereinigungen, von denen jede einzelne das große Geld machen will und in der Wahl der Mittel auf dem Weg dahin vor wenig zurückschreckt. Zunächst setzt Regisseur Phillip Kadelbach uns dieses Milieu noch als genau das dubiose, verschwommene, schwer greifbare Etwas vor, das ein Zuschauer ohne bisherige Berührungspunkte zum Metier erwarten würde: verqualmte Spelunken, in denen Screen an Screen die aktuellen Spiele internationaler Ligen flimmern, geschwärzte Scheiben, die diese Bereiche als eine kleine, in sich geschlossene Welt schützen, die bewusst von der normalen Realität abgeschottet wurde, weil hier eigene Regeln von Aufstieg und Fall gelten, und wenig vertrauenserweckende Buchmacher, die erst bei den obskursten Wetten, die Schilling als Protagonist Klaus platzieren will, um langsam mit den Drahtziehern der beschatteten Organisationen in Verbindung zu kommen, auf die Barrikaden gehen. Soweit so gut, in kühlen, entsättigten Bildern ein halblegales Milieu zu zeigen, ist noch keine große Kunst.

Doch AUF KURZE DISTANZ denkt weiter und die Schlussfolgerung dieser Gedanken ist es, die Reibungsflächen in Klaus hervorruft und ihn nach und nach zermürben wird. Sein Zugang zum Goric-Clan – Luca, lediglich ein kleiner Fisch in dieser serbischen wett-Mafia und Neffe des drahtziehenden Familienoberhauptes – ist keineswegs der bösartig-brutale Gangster, als welcher (speziell in knallharten Thrillern) Kriminelle in der Regel dargestellt werden. Im Gegenteil, er ist ein Mensch und ein ziemlich sympathischer obendrein, wird bald Vater und strahlt oft eine mitreißende Lebvensfreude aus. Schnell beginnen für Klaus professionelles Auftreten und private, tatsächlich aufkeimende Freundschaft zu diesem jungen Mann zu verschwimmen und eine bedrückende psychologische Komponente schleicht sich in den Film ein. Was tun, wenn die Füße auf verschiedenen Flößen stehen und diese, so hart man auch rudert, um es heraus zu zögern, zwangsweise irgendwann auseinander driften werden? Plötzlich Loyalität an Orten wächst, wo sie (zumindest laut Gesetz und Auftraggebern) keinen Platz hat? Im Hinterkopf (und im Herzen) langsam die Gewissheit aufweicht, auf welcher Seite man eigentlich steht? In einem Zustand der Paranoia, den Kadelbach brillant in eine audiovisuelle Gesamtatmosphäre transferiert, ist Klaus den Spannungen zwischen Luca’s Freundschaft und dem Misstrauen der höheren Familienmitglieder ausgesetzt – die gedrehten Dinger werden immer größer, der Einsatz riskanter, Klaus seinen Vorgesetzten gegenüber skeptischer.

Was AUF KURZE DISTANZ unterm Strich jedoch von gut zu großartig erhebt, sind nicht die durchweg starken Darsteller, oder die, vom pochenden Ambient-Score unterlegte und in kaltem, körnigem Look gehaltene Inszenierung – es sind die Entscheidungen, die der Film im Laufe seiner Spielzeit trifft und die ihn rückblickend in kaum vorstellbarem Maße aus den sonstigen Produktionen der ARD (zumindest denen, die ich mir sporadisch mal ansah) herausstechen lassen: Kadelbach’s Werk, und das nimmt im Skript der Drehbuchautoren seinen Ursprung, wählt den schonungslosen Weg. Einen, der uns unmissverständlich klar macht, in welche Fallhöhe sich Klaus durch die Infiltration der Wettmafia begibt und dass wir nicht, bloß weil wir gerade einen Film sehen, davon ausgehen können, dass für ihn alles gut werden wird – in welche Richtung die Ereignisse laufen werden, liegt im wabernden Dunst dieser erschreckend real anmutenden Zwischenwelt verborgen, die Kameramann Jakub Bejnarowicz immer wieder so schwer greifbar (und gerade deshalb präzise) in leichter Unschärfe einfängt.

Ein durchweg überzeugender, verdammt spannender Film, der hoffentlich die Verantwortlichen im Sender überzeugen wird, dass es gut ist zu wagen, dass dem Treppenlift-Publikum gern mehr, als nur die immergleiche gefällige Wohlfühl-Suppe vorgesetzt werden darf – ihr Herzschrittmacher wird nicht gleich stehen bleiben – und dass Mut zum Genrekino etwas ist, was die deutsche Filmlandschaft so nötig braucht, um die verkrusteten Strukturen des NS-Zeit-Betroffenheits-Dramas aufzubrechen. Bitte mehr davon, das war nämlich richtig, richtig gut!


Wertung
8 von 10 millionenschweren Fußball-Wetten


Veröffentlichung
AUF KURZE DISTANZ wurde am 02. März 2016 in der ARD erstausgestrahlt und ist bis zum 2. Juni, täglich ab 20 Uhr in der Mediathek abrufbar.


Weblinks
DAS ERSTE (← hier im Stream)
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

3 Gedanken zu „(Neuer) Deutsch(sprachig)er Genrefilm #12: Auf Kurze Distanz (2016)“

  1. Da haben wir wohl mal zufällig zeitgleich einen Film gesehen, und auch ich bin relativ geflasht.
    Tom Schilling ist tatsächlich ein verdammt guter Schauspieler.

    In OH BOY fiel er mir schon sehr positiv auf durch seine “natürliche” Art zu acten. Er schafft es, den Eindruck zu erwecken, die Kamera sei nicht vorhanden.
    Einen gleichwertigen Gegenspieler bekam er z.B. in der unglaublichen Szene beim Idiotentest…und wie stark ist diese bitte??

    In diesem Film überzeugt er mich mich mit genau den gleichen Mitteln; ich hatte nie den Eindruck ich schaue einem Schauspieler zu, sondern einer Person, der das genau in dem Moment passiert und zufällig hält gerade eine Kamera drauf. Wirklich Respekt, Herr Schilling.

    Erwähnenswert ist in meinen Augen das Ende, das diesen guten Film zu einem erstaunlich gutem gemacht hat (zumindest für ARD Verhältnisse).
    Ich darf natürlich nicht spoilern, aber das kam unerwartet heftig daher und deshalb Daumen hoch für diesen Streifen.

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