© by Koch Media

Film: Saint Ange – Haus Der Stimmen (2004)


Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by Koch Media


Fakten
Jahr: 2004
Genre: Horror, Psychologisches Drama
Regie: Pascal Laugier
Drehbuch: Pascal Laugier
Besetzung: Virginie Ledoyen, Lou Doillon, Catriona MacCollDorina LazarVirginie DarmonJérôme Soufflet
Kamera: Pablo Rosso
Musik: Joseph LoDuca
Schnitt: Sébastien Prangère


Review
Gefangen in der eigenen Vergangenheit, Opfer schrecklicher Erlebnisse, unfähig mit ihnen (und sich selbst) ins Reine zu kommen – ähnlich wie in seinem polarisierenden Nachfolgewerk, thematisierte der französische Regisseur Pascal Laugier diese Aspekte bereits in seinem Spielfilmdebüt SAINT ANGE – rein filmisch beschreitet letzterer von 2004 jedoch maßgeblich andere Wege.

Anders als in MARTYRS, besagtem Nachfolger, der als Studie der verheerenden Folgen unmenschlicher Gewalt mit derbem meta-Einschlag auch international zu immensem Ruhm gelangte, agiert SAINT ANGE nämlich durchweg vor allem langsam und subtil, fast schleichend. Eine junge Frau wird im Jahre 1958 als Haushälterin in einem stillgelegten Waisenhaus eingestellt und beginnt recht schnell anzuzweifeln, dass an diesem Ort alles mit rechten Dingen zugeht. Klassische Horror-Story, soweit die Oberfläche. 

Was Laugier – für Skript und Regie verantwortlich – uns jedoch eigentlich erzählt, findet komplett im Subtext der teils grandios eingefangenen Bilder statt. Der Filmemacher bedient sich dazu einer mittlerweile fast verloren geglaubten Kunst – dem visuellen erzählen – denn nur in den seltensten Fällen werden Informationen über die Figuren, ihre Vergangenheit und erst recht Ihren emotionalen Antrieb verbal (oder auch nur explizit) kommuniziert. Erklärungen sind nicht nötig, denn Laugier weiß um die Kraft des Mediums Film und traut den Zuschauern zu die notwendigen Zeichen zu lesen.

Schenken diese dem Film tatsächlich das Maß an Aufmerksamkeit das er verdient, wird dieses Unterfangen erfolgreich sein. Mit einem Auge auf dem Smartphone hingegen nicht, denn über weite Strecken, teils minutenlang, funktioniert SAINT ANGE gänzlich ohne Dia- oder Monologe und vermittelt alles Relevante in kleinen audiovisuellen Details. Auch wir müssen die Umgebung also aktiv wahrnehmen, Detektiv spielen und Puzzlestücke zusammensetzen, um zu verstehen was wir sehen, oder die (zunächst oftmals sprunghaft und wenig nachvollziehbar erscheinenden Handlungen der Figuren) einzuordnen.

Ein Beispiel: Protagonistin Anna soll angeblich mit ihren früheren Arbeitgebern Ärger gehabt haben (so kommunizieren es zwei dubiose Männer in Trenchcoats im Büro der früheren Anstalts-Leiterin in einem Nebensatz), ist schwanger, allerdings unfähig diesen Zustand als etwas schönes zu akzeptieren und wird eines nachts von einem Albtraum heimgesucht in dem man sie zu Boden wirft und für einen Bruchteil einer Sekunde mehrere Männer mit freiem Oberkörper über ihr zu sehen sind – ohne Anna ein Wort über ihre Vergangenheit verlieren zu lassen, ist dennoch in drei (sehr) kurzen Einstellungen alles erzählt, was wir wissen müssen. Und dies ist kein Einzelfall – wer also die nötige Bereitschaft zur vollkommenen Involviertheit missen lässt, wird in SAINT ANGE nicht viel finden können.

Dieser Form der Erzählung spielt die formelle Brillanz in die Karten, mit welcher Laugier und sein Kameramann Pablo Rosso das Innere der verlassenen Einrichtung einfangen. In wundervollen, unglaublich langsamen Kamerafahrten werden Räume erschlossen oder Szenenübergänge eingeleitet, perfekt arrangierte Bilder gehen fließend ineinander über, ungewöhnliche Perspektiven sorgen oftmals für ein Gefühl der Entrücktheit. Stimmungsvoller wurden Innenräume selten eingefangen. Dazu kommt Joseph LoDuca’s sehr klassisch anmutender orchestraler Score, der die Geschehnisse authentisch in der porträtierten Zeit verhaftet, aber zielgerichtet für Spannung sorgt, wenn sich einer von zahlreichen Suspense-Momenten andeutet.

In diesen gelingt eine stimmige Fusion Anna’s Wahrnehmung und unserer beobachtenden Perspektive. Sind die Laute in den Wänden Einbildung, oder gar Realität? Leben wirklich versteckte Kinder in den geschlossenen Trakten des riesigen Gebäudes? Als Überbleibsel einer schrecklich dunklen Vergangenheit? Oder entspringt der Wunsch diese zu finden und zu retten lediglich aus Anna’s eigenen Traumata und dem damit einhergehenden Drang, aufgrund des erlebten Leids anderen selbiges zu ersparen? Mit einer Antwort auf die Frage, ob sich Wahrheit oder Wahn in diesen Bildern versteckten, hält sich Laugier jedoch über weite Strecken bedeckt – und das ist gut so, weil Raum für Lesarten bleibt und SAINT ANGE sich gekonnt einer jeden Verortung in klaren Filmgenres entzieht. In diesem Film steckt zu gleichen Teilen viel und wenig Horror, Grusel oder psychologisches Drama – denn unser Kopf muss mitarbeiten, die ausgesparten Leerstellen mit Kopfkino gefüllt werden.

Problematisch dabei ist eigentlich nur, dass Laugier zwar offensichtlich bereits ein enormes Gespür für überzeugende Bilder besaß, auf Seiten des erzählerischen Flusses jedoch einige Luft nach oben bestand. Vielleicht erschließt sich die erzählerische Funktion einer jeden Szene auch erst in erneuten Durchläufen, bei dieser Erstsichtung erschienen mir mehrere Segmente jedoch als relativ funktionslos, da weder atmosphärisch, noch auf Seiten der Charakterzeichnung etwas beisteuernd. SAINT ANGE erweckt zunächst den Eindruck eines absoluten Slow-Burners, der sich viel Zeit nimmt, aber andeutet irgendwann in totaler Eskalation zu enden – doch auch, nachdem eine (vermeintliche) Schlüsselszene in der Mitte des Films tonal eine neue Marschrichtung vorgibt, nimmt Laugier weiterhin immer wieder unnötig den Wind aus den Segeln. Das surreale Finale entschädigt zwar ein wenig, doch ist nicht zu leugnen, dass der Film zuvor nie endgültig in Fahrt kam.

Wer Freude an durchkomponierten Bildern und, Jahre nach SAINT ANGE vor allem in den USA durch James Wan und Ti West wieder salonfähig gewordenen, ultra-reduzierten Suspense-Grusel hat, dürfte in diesem Film dennoch eine gewisse Erfüllung finden. Einen zweiten MARTYRS zu erwarten, versetzt SAINT ANGE jedoch den Todesstoß – diese zwei Filme eint lediglich ihr Macher und eine (in diesem Fall lose) Assoziation mit dem Horrorgenre – ansonsten könnten sie gegensätzlicher nicht sein.


Wertung
6 von 10 geheimnisvollen Schemen hinter dem Spiegel


Veröffentlichung
SAINT ANGE – HAUS DER STIMMEN erscheint am 22. September 2016 bei Koch Media als BluRay und DVD. Im Bonusmaterial befinden sich einf ast einstündiges MAking-Of mit Impressionen vom Dreh, eine Bildergalerie und Trailer. Die Discs kommen im Wendecover ohne FSK Logo.


Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
Amazon (*) (falls ihr das Amazon-Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.