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Film: Nineteen Eighty-Four (1984)


Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by 20th Century Fox


Fakten
Jahr: 1984
Genre: Dystopie, Gesellschaftskritik
Regie: Michael Radford
Drehbuch: Michael Radford
Besetzung: John Hurt, Richard Burton, Suzanna Hamilton, Cyril Cusack, Gregor Fisher
Kamera: Roger Deakins
Musik: Dominic Muldowney
Schnitt: Tom Priestley


Review
“You want a vision of the future? Imagine a boot stamping on a human face forever.”

Die Behauptung George Orwell’s Klassiker 1984 sei wohl einer der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Dystopie, erfährt in der Regel wenig Gegenwind. Zu stark und packend ist das Buch geschrieben, zu viele der mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurück liegenden Prognosen sind bereits (weitgehend unbemerkt, zumindest in der prä-Snowden-Ära) eingetreten und zu immens ist der nach wie vor prägende Einfluss auf Kunst und Gesellschaft. Nun begeben sich Film-Adaptionen derart relevanter Werke aus der Natur der Sache heraus auf ein relativ dünnes Eis: es kann eigentlich nur schief gehen, denn setzen Drehbuchautor und Regisseur eine eigene filmische Vision um, wird das Resultat als zu eigen und wenig Vorlagen-getreu kritisiert, orientieren sie sich aber minutiös am Roman, wird ihnen genau das Gegenteil, also fehlende Kreativität und ein zu enges Entlanghangeln an diesem vorgeworfen. Witzigerweise rezipieren Zuschauer ohne Kenntnis der Literaturvorlage die Filmfassung oft vollkommen anders, nämlich weit mehr als das, was sie eigentlich ist: eben ein Film. Ein eigenständiges Werk, nicht eine alternative, medial-transferierte Form eines anderen. Und als solches sollte man auch die Romanverfilmung NINETEEN EIGHTY-FOUR betrachten – ganze 36 Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen von Michael Radford adaptiert und in exakt dem Zeitfenster des Jahres 1984, welches die Handlung im Roman einnimmt abgefilmt. Es wäre ein Leichtes, sie in einer öde vergleichenden Gegenüberstellung in der Luft zu zerreißen – doch obwohl der Film keine gänzlich runde Sache ist: ein wenig mehr Fairness hat er verdient. Inhaltlich ist die großartige Richtung natürlich gesetzt, doch wie gut vermittelt Radford’s Film sie und woran scheitert er?

“Ignorance is strength”

Winston Smith lebt in einer heruntergekommenen Welt, in der “Die Partei” alles und jeden kontrolliert. Allgegenwärtige Teleschirme feuern mit unablässiger Kraft Kriegs-Propaganda, Hass-erfüllte Hetze gegen den Untergrund- Revolutionär Goldstein und den Staat lobende Reden auf die Bürger herab, sichtbare und versteckte Kameras scheinen jeden Schritt zu überwachen. Winston Smith arbeitet bei einer Behörde, dem “Ministry of Truth”, die in mühsamer Kleinstarbeit damit beschäftigt ist, anhand von Zeitungsberichten die Zukunft in die erwünschte Richtung zu lenken und die Vergangenheit, ebenfalls an der aktuellen Marschrichtung der politischen Drahtzieher orientiert, in den Archiven ständig neu zu schreiben (“Oceania has ALWAYS been at war with East Asia”) – Manipulation ist alles. Doch Winston beginnt zunehmend an den kruden Mechanismen des Systems zu zweifeln und hinterfragt das eigene Handeln weit über eine heikle, gefährliche Schwelle hinaus – das Resultat: sein moralischer Kompass schlägt in eine skeptische Richtung aus. Als er eine Gleichgesinnte “Schwester” trifft, entwickeln sich die Ereignisse in eine ungeahnte Richtung.

“War is peace”

Zunächst fällt auf, wie stark das World-Building direkt einen ungeschönten Eindruck der Verhältnisse im London des Jahres 1984 vermittelt: Obwohl der Super-Staat Ozeanien offiziell (meint: angeblich) an weit entfernten Fronten im ewig andauernden Stellungskrieg mit dem Feind Eurasien (meint: Ostasien) steht, sprechen die Ruinen in denen sich all die geplagten, Dreck-verschmierten Arbeiter tagtäglich zur Erfüllung ihrer Pflicht schleppen, eine andere Sprache – hier sieht es aus, als habe ein Krieg gewütet, dessen Ruinen nie wieder aufgebaut wurden. Karge Trostlosigkeit spiegelt das Innenleben der Menschen und die nie enden wollende Gehirnwäsche aus den alles umspannenden Lautsprechernetzen mag zwar noch so oft verkünden, dass auch der nächste Drei-Jahres-Plan wieder mit pompösen Überschüssen abgeschlossen wurde, die Realität steht im krassen Kontrast zu diesen Behauptungen. Auf dieser Ebene funktioniert NINETEEN EIGHTY-FOUR exzellent, denn die Systemkritik dieser Bilder sagt mehr als jeder Dialog. Derartige Kontraste zwischen Soll und Ist schaffen Spannungen, die tiefe Einblicke in die Funktionsweise dieses (und somit eines jeden) totalitären Systems erlauben: Hier wird gedacht, was die Partei zu denken vorgibt, Individualismus in der Wurzel erstickt und blinde Loyalität mit harter Hand erzwungen. Es sind bereits Kleinigkeiten, die viel über die Zustände sagen – als Winston zum Beispiel bei einer kollektiven Turnübung von der Instruktorin auf dem Teleschirm in seiner Wohnung direkt angesprochen wird, weil er sich “nicht genug anstrengt”, schwingt im Subtext weit mehr als nur eine Ermahnung für mangelnden Einsatz beim Sport mit: „Jede deiner Bewegungen wird mitgeschnitten“, sagt ihm (und uns) dieser Moment “also bleib unauffällig, denn wir haben dich schon, ehe du selbst bemerkst wie es um dich steht”. Ein unvorstellbarer Druck auf den Schultern der Menschen, im Resultat schwimmen sie mit dem Strom des Systems und genau das zwingt sie in den Zustand von Sklaven ohne Eigenschaften.

“Freedom is slavery”

Was definiert den einzelnen Menschen? Was unterscheidet ihn von seinem Nachbarn, seinen Geschwistern oder seinen Freunden. Es ist die Individualität und eben diese wird in Orwell’s beklemmender Vision des Totalitarismus konstant torpediert – das Ziel der Partei ist ihre Auslöschung. Gekonnt durchleuchtet der Stoff die Schaffung von Angst und Abhängigkeiten über omnipräsente Druckmittel: welcher ordentliche Bürger würde denn wagen, sich gegen den eigenen Staat zu wenden, dessen Söhne an weit entfernter Front ihr Leben lassen, nur um daheim ein Leben in vermeintlicher Freiheit zu ermöglichen? Der Krieg als Mittel der Stimmungsmache, Gleichschaltung und letztendlich Unterdrückung – wie viel an diesen gesellschaftspolitischen Mechanismen dran ist, zeigen sowohl die Vergangenheit, als auch beispielsweise die ständigen Anfeindungen von Irak-Krieg-Gegnern durch “Patrioten” in den USA recht deutlich. Zusätzlich dazu, dass den Bürgern des dystopischen Londons durch die allgegenwärtige visuelle Überwachung bereits der Raum für freie Handlungen genommen wurde, geht es auch der letzten Bastion des persönlichen Ausdrucks an den Kragen: der Sprache. So wie Winston’s Behörde Geschichte neu schreibt, wird an anderer Stelle der gängige Wortschatz so weit reduziert und modifiziert, dass (im Hinblick auf die Unterbindung kritischen Denkens) individueller Ausdruck nicht mehr möglich ist. Was nützt noch ein Gefühl der Skepsis, wenn keine Sprache mehr existiert, um es zu kommunizieren? Man sieht, die Pläne der Partei gehen weiter, als das Volk nur gewaltsam zu unterdrücken – sie sollen sich nicht bloß fügen, sie sollen glauben, was ihnen vorgegeben wird (“2 + 2 = 5”, wenn die Partei es sagt). Wahrheit ist, was als Wahrheit vorgegeben wird – in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – diese Wahrheit anzuzweifeln ein Verbrechen.

„Thoughtcrime is death.“

Die Frage ist nun, wie sehr der Film NINETEEN EIGHTY-FOUR all diese tiefgehenden Betrachtungen zu vermitteln weiß? Fakt ist, dass er unglaublich zum Nachdenken anregt, weil enorme Teile der gezeigten Missstände tatsächlich nicht weit von realen Zuständen entfernt sind – ein wenig Abstraktion, ein wenig weiter denken und schon stehen Fragen im Raum: Geschichte wird von Siegern gemacht – wie viel der Weltgeschichte, wie wir sie kanonisch akzeptiert haben hat sich also wirklich so abgespielt und wie viel wurde von den “Ministrys of Truth” dieser Welt reverse-engineered? Wie weit ist es mit den Methoden der Überwachung, Ausspähung und Durchleuchtung wirklich schon gekommen? Ist das Spin-Doctoring vernetzter Massenmedien noch allzu weit von “2 + 2 = 5” entfernt? Viel Stoff zum kritischen Grübeln, jedoch alles Orwell geschuldet, nicht Radford. Von den offensichtlich vorliegenden Mechanismen der Manipulation und Unterdrückung abgesehen, platziert letzterer nämlich zig elementare Charakteristika des Systems eher beiläufig in der Handlung – in kurzen Unterhaltungen am Tisch in der Kantine, in verlesenen Stellen aus Goldstein’s Buch und häufig im Kontrast aus passiv dahin-wabernder Propaganda im Hintergrund und dem real-gezeigten. Nun wieder die Gratwanderung des Romanvergleichs: Reicht das? Erzählt Radford wirklich genau so viel wie, oder besser äquivalent zu Orwell? Oder setzt sein Film zu sehr auf das Hintergrundwissen der Rezipienten – 1984 sollte schließlich ausnahmslos JEDER gelesen haben. Tut er nicht – den selben Impact wie das Buch hat diese Adaption aufgrund einiger kleinerer Schwächen, beginnend bei der besagten (zu) subtilen Darreichung der Kritik und endend im nicht immer passigen Filmscore, leider nicht. Aber ganz sicher hat Radford sich nicht wenige Gedanken gemacht, welche Konzepte und Aspekte des Stoffes sich passend in einen Film überführen lassen und versucht eigene Schwerpunkte zu setzen: Obwohl auch viel im Dialog passiert, setzt er auf visuelles erzählen und erschafft erfolgreich über weite Strecken ein starkes Gefühl. Herausgekommen ist ein ruhiger, beklemmender Film, dem das letzte Bisschen Drastik fehlt und der so manchen inhaltlichen Kernaspekt noch weiter hätte ausformulieren müssen, um die gesellschaftliche Tragweite des gezeigten Wahnsinns noch präziser heraus zu arbeiten. Wer gut zuhört und mitdenkt, kommt in dieser Adaption aber trotzdem auf seine Kosten und wird den widerlichen Geschmack der Unfreiheit auf der Zunge spüren. Somit war, ist und bleibt NINETEEN EIGHTY-FOUR kein vollkommen runder, aber ein überaus relevanter Film, denn auch wenn wir mittlerweile eher in Huxley’s BRAVE NEW WORLD als in Orwell’s dunkler Vision leben – es kann nicht oft genug betont werden, dass wir in dieser Realität nicht landen wollen. Niemals.


Wertung
7 von 10 watchenden Big Brothern


Veröffentlichung
NINETEEN EIGHTY-FOUR erscheint am 10. September 2015 in einer neuen Veröffentlichung bei 20th Century Fox erstmalig in Deutschland auf BluRay, sowie auf DVD und als VoD. Zwar hat es der eine oder andere (kleinere) Bildfehler ohne Korrektur auf die Disc geschafft, den nostalgisch-dreckigen Charme des Films unterstreicht dies aber eher, als dass es stört. Generell sind die Bild- und Tonqualität für einen 30 Jahre alten Film durchaus solide.


Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

5 Gedanken zu „Film: Nineteen Eighty-Four (1984)“

    1. Keine Frage, der Film IST gut und ich hab ihn sicher auch nicht das letzte Mal gesehen, dennoch hätte ich mir manches noch prägnanter ausformuliert gewünscht. Allerdings weiß ich nicht, ob dieser Wunsch einfach nur durch die Kenntnis des Romans hervor gerufen wird. Es funktioniert halt nicht, den getrennt von der Vorlage zu betrachten, wenn man sie kennt..

      1. Es sei denn, sie drehen wie Kubrick mit SHINING den Stoff in eine gänzlich andere Richtung und sind dann eher “inspired by”. Hätte hier aber wenig (= null) Sinn gemacht.

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