Trailer © by British Film Institute
Fakten
Jahr: 2014
Genre: Dokumentation
Regie: Andre Singer
Drehbuch: Lynette Singer
Besetzung:
Kamera: Richard Blanshard
Musik: Nicholas Singer
Schnitt: Arik Leibovitch, Stephen Miller
Review
Je mehr Lebenserfahrung ich sammle (und das klingt jetzt aufgesetzt-weiser, als es gemeint ist), umso weniger gelingt es mir in den Schädel zu bekommen, was (und vor allem warum) im dritten Reich eigentlich genau passiert ist. Zwar steigt mein Wissen über die Geschehnisse der Zeit und das unbegreifliche Ausmaß des Grauens erschließt sich dadurch immer mehr, doch je weiter dieses “Verständnis” fortschreitet, desto ohnmächtiger fühle ich mich im Prozess der Verarbeitung solch eines vollkommenen Verfalls der Menschlichkeit – weil es einfach so weit von allem, was unser gemeinsames Dasein definiert entfernt ist, dass es schlicht nicht begreifbar ist.
Realisieren zu müssen, dass damals eine gesamte Nation einem Wahnsinnigen auf einen Pfad gefolgt ist, der Hass, Gewalt und widerwärtige Folter als den primären Antrieb des menschlichen Miteinanders propagierte (und beim bewandern dieses Pfades schleichend alles was den Menschen zum Menschen macht ablegte), schockiert mich seit ich es erstmalig in ganzem Ausmaß begriffen habe und wirft immer wieder die gleichen Fragen auf: “Wie konnte das passieren?”. Doch das schlimme daran ist, dass keine Antwort existiert. Und dass das Potential für Greueltaten leider nicht durch die Lehren aus der NS-Zeit verschwunden ist.
Seit mir in jungen Jahren mal schlagartig bewusst wurde, dass die unvorstellbaren Zustände in den vielen Archivaufnahmen von Menschen geschaffen wurden, wir immernoch Menschen sind und daher immernoch (wie die ständigen Genozide auf dieser Erde zeigen) die Möglichkeit besteht, dass derartige Grausamkeiten sich wiederholen werden, schwingt beim sehen dieser Bilder neben Betroffenheit und Wut auch immer eine gewisse Scham mit. Scham ein Teil der Spezies zu sein, die zu derartigem fähig war. Und ist. Das erschreckt in einem Maße, welches schwer in Worte zu fassen ist.
Um nun den Bogen zu NIGHT WILL FALL zu spannen: Und immer wenn ich denke, ich habe für mich einen Weg gefunden, all diese Schlechtigkeit einzuordnen und gedanklich abzulegen, tauchen neue Zeitdokumente auf, die noch ein Stückchen weiter zur Essenz des Grauens vordringen, die zeigen, dass das Gefühl, welches man für Umfang und Ausmaß der Nazi-Massenmorde entwickelt hatte nicht ausreichte, die unangenehm darauf hinweisen, dass das schlimmst-vorstellbare noch lange nicht genug war. Je mehr ich davon sehe, desto stärker lähmt mich diese unvorstellbare Gewalt und Menschenverachtung dann wieder.
NIGHT WILL FALL ist ein Zeitdokument, das verdammt nah ran geht – in der Dichte des Grauens, das die vielen Originalaufnahmen transportieren, vielleicht näher, als eine Doku, ein Film, oder ein Bericht der mir bekannt ist, es bisher konnte. Eigentlich ist der Film eine Doku über die gescheiterte Entstehung einer Doku, die Alfred Hitchcock über die Nazi-Verbrechen produzieren wollte, doch das verkommt zur Randnotiz, denn die hier gezeigten Bilder sprechen eine eigene bestialische Sprache. Vorherrschen tut die pure, ungeschönte und unbegreifliche Wahrheit, die so bösartig und falsch erscheint, dass das Hirn sich über weite Strecken einfach weigert, sie als solche zu akzeptieren.
Die Alliierten erkämpften sich zum Ende des zweiten Weltkriegs hin Stück für Stück Europa und stießen irgendwann zwangsweise auf die ersten Konzentrationslager. Ausschwitz, Bergen-Belsen, etc. Ihre Kameramänner, damals um Material für propaganda-Filme zu drehen immer mit im Feld, reagierten wie alle anderen Soldaten auch schockiert, niedergeschmettert und vollkommen ungläubig, aber hielten drauf und lieferten so die vielleicht direktesten und ungefiltertsten Aufnahmen von der Quelle des Leids. Bilder und verbale Berichte entstanden, die man nicht wieder vergessen können wird, wenn man sie einmal gesehen hat – unsinnig und unangemessen wäre es, sie hier zu beschreiben – und NIGHT WILL FALL gelingt es durch die Einbettung dieses Materials sehr gut ein Empfinden dafür zu erzeugen, welche Wirkung die schlimmen Entdeckungen der Truppen auf die einzelnen Soldaten hatten: Sie konnten es schlichtweg nicht begreifen, weil das Grauen alles überstieg, was Menschen sich bis dato vorzustellen in der Lage waren.
Wenn da gestandene Männer, die damals in ihren frühen 20ern Teil der Besatzungstruppen waren, 60 Jahre später mit Tränen in den Augen erzählen, wie sie immernoch nachts in Panik aufwachen und mit leerem Blick in die Kamera flüsten: “Wir haben damals direkt in die Hölle gesehen”, dann glaubt man ihnen, denn diesen Momenten wohnt eine emotionale Wucht inne, die all den unmenschlichen Wahnsinn der Epoche in diesen einen Satz überführt und ihn uns mit ganzer Kraft entegegen schmettert. Wenn Menschen andere Menschen nicht mehr als eben solche, sondern als Dreck im Rinnstein betrachten, egal ob aus Überzeugung, aus Opportunimus, oder durch passive Teilnahmslosigkeit, ist ein Tiefpunkt unserer Spezies erreicht – NIGHT WILL FALL zeigt mit wuchtiger Kraft das abartige Destillat dieses lang anhaltenden Tiefpunktes.
Ein bedrückendes filmisches Mahnmal.
Wertung
Eigentlich keine konventionelle Wertung möglich (wenn ich müsste, wären es wohl etwa 8-9 von 10)
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
Kaufen (falls ihr nichts seht, killt euer Ad-Blocker das Amazon-Widget):
Klingt extrem spannend und grausam. Weiß nicht, ob ich mich dem im Moment aussetzen möchte, doch sollte man die Doku wohl einmal gesehen haben. Nur nicht vergessen.
Ist wirklich, wirklich hart. Habe die auch schon vor fast zwei Monaten gesehen, aber erst jetzt darüber geschrieben, wo das einigermaßen verdaut ist.
Man weiß ja was in den Konzentrationslagern passiert ist, aber der Film führt es einem mal so direkt und drastisch vor Augen, dass der Glauben an die Menschlichkeit arg ins Wanken gerät. Diese Dimensionen. Man kann es einfach nicht begreifen, wie sowas möglich war..
Als Nürnberger bin ich mit diesem düsteren Kapitel der Geschichte leider bestens vertraut und war auch schon 2x im Dokuzentrum – an solchen Tagen braucht man danach echt nichts mehr und hat den Glauben an die Menschheit verloren.