Trailer & Titelbild © by Wild Bunch
Fakten
Jahr: 2008
Genre: Horror, Terrorfilm
Regie: Pascal Laugier
Drehbuch: Pascal Laugier
Besetzung: Morjana Alaoui, Mylène Jampanoï, Catherine Bégin, Robert Toupin, Patricia Tulasne, Juliette Gosselin, Xavier Dolan, Isabelle Chasse, Emilie Miskdjian, Tony Robinow, Anie Pascale
Kamera: Stéphane Martin, Nathalie Moliavko-Visotzky, Bruno Philip
Musik: Alex Cortés, Willie Cortés
Schnitt: Sébastien Prangère
Review
Verdammtes Ding, dieser Film. Garstig, widerlich und von schmerzhafter Intensität – letzteres jedoch keineswegs im Sinne von schlecht, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. MARTYRS ist ein schwer- bis unerträglicher Film, dessen tiefere Intentionen sich zunächst hinter einem kaum zu durchdringenden Mantel aus oberflächlicher Härte verbergen und demnach vielleicht nicht auf Anhieb erschließen – fällt jedoch der finale Würfel, eröffnet sich ein neuer Blick auf das erlebte, der die Wichtigkeit des Werkes als Grenzen überschreitender Eckpfeiler des Horror-, genau genommen aber vor allem des Terrorkinos untermauert.
Hinterfragt man den kontrovers aufgenommen (und diskutierten) französischen Schocker nämlich kritisch in seinem unfassbar grausamen Setting und der damit einher gehenden schonungslosen Gewaltdarstellung, kann man eigentlich nur zu dem Urteil kommen, dass es durch und durch richtig ist, wie Filmemacher Pascal Laugier uns in ständiger Wiederholung immer wieder aufs Neue derart quälende Bilder vorsetzt, dass sich alles im Innern zusammen zieht und Übelkeit regiert. Denn – und das ist der Punkt dabei, weil es einen nötigen Bruch mit den heutigen Sehgewohnheiten in sich trägt – DAS ist Gewalt. Sie hat nichts cooles, oder witziges und vor allem nichts unterhaltsames an sich, sondern ist eine destruktive Kraft, die oberflächlich Körper und im Inneren der Betroffenen noch weit mehr als diese zerstört. Die seelische Löcher aufreißt, welche im Gegensatz zu Schnitt- oder Platzwunden nie wieder verheilen. Und die keine Konflikte löst, sondern stetig neue, größere schafft.
Laugier inszeniert Gewalt als Strudel, welcher, einmal in Wallung gebracht, nicht wieder zur Ruhe kommen wird, bis er alles auf seinem Weg kompromisslos in die Tiefe mitgerissen hat. Die Misshandlung der jungen Lucie ist der Ursprung, ihr Durst nach Rache ein vorbestimmter Punkt auf der (zwingend folgenden) kontinuierlichen Abwärtsspirale und die weitere Entwicklung in der zweiten Filmhälfte ein logische Konsequenz – Gewalt als Ursprung führt zwingend zu mehr Gewalt, weil sie etwas durch und durch schlechtes ist.
Besonders an MARTYRS ist jedoch, dass er zusätzlich zu diesen Betrachtungen, welche fast zwingend aus der Bewährungsprobe für uns Zuschauer heraus resultieren, auch auf multiplen weiteren Ebenen funktioniert, Themen reflektiert und schlussendlich auch (vor allem) anklagt. Dem eröffnenden Blick auf ein Opfer folgend, welchem früh die Chance auf jegliche Form der Erfüllung genommen wurde, schleichen sich im Verlauf, fest miteinander verwoben, zwei weitere Blickwinkel ein – der der Täter und ihrer (vom Drehbuch nicht ganz wasserdicht erdachten, aber auf allegorischer Ebene treffenden) Beweggründe, sowie der der Beobachter, welche das ausufernde Leid billigend rechtfertigen, weil es als Antrieb für ein (wie auch immer geartetes) perfides Ziel benötigt wird.
Einen Kernaspekt bildet in diesem Zuge das Handeln der symbolischen “herrschende Klasse”, welche vollkommen gefühlskalt “die da unten” für ihre Zwecke instrumentalisiert – fernab jeglicher Empathie, Menschlichkeit und Güte benutzt (wofür die gewalttätige Folter in MARTYRS steht), um den eigenen Reichtum und Wohlstand (hier: Erkenntnisgewinn) zu mehren. Laugier gelingt auf diesem Wege ein so treffendes Abbild moderner Ausbeutungskultur in unserer (angeblich so fortschrittlichen) Gesellschaft, dass man gar nicht weiß, ob einem aufgrund des nahezu körperlichen (mit)Erlebens von schrecklicher Folter, oder eher der Selbstverständlichkeit, mit der die ausführenden Folterknechte über Leben und Tod verfügen, als spielten sie mit Marionetten, übler werden soll. Diese symbolische Kritik an Macht(missbrauch), gesellschaftlichem Schachspiel und erkauftem Sadismus ist vielleicht sogar die stärkste Komponente am Film.
Und dann, ich sprach bereits von Beobachtern, ist da noch ein dritter Aspekt: Wir. Die Zuschauer. Hier schaut MARTYRS mit einem kritischen meta-Blick in Richtung des Horror-Publikums und fordert (ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu wedeln) dazu auf, mal drüber nachzudenken – darüber wie wir über die Jahre gelernt haben immer drastischere Bilder unbewegt hinzunehmen und, anstatt irgendwann auf Abwehr zu schalten, irgendwo auf dem Weg den Bezug zum Gesehenen verloren haben. Im Gegenteil: voll im Blutrausch mitgehen und immer nach mehr lechzen. Darüber lachen, wie in Tarantino-Filmen aus Versehen auf lustige Weise Menschen umgebracht werden, oder in Splatterfilmen explodierende Körper in Blutfontänen aufgehen und Filmreihen wie SAW, die mit starkem Subtext begannen, doch schnell zu reinen Gewaltpornos verkamen, zu solchem Erfolg verhelfen, dass 6-7 Fortsetzungen keine Seltenheit sind.
Indem Laugier den Grausamkeiten in MARTYRS jegliche filmische Schönheit verweigert, sie eiskalt und nüchtern als besagte Grausamkeiten zeigt – was den Film eben WEIT von einem stumpfen Folterporno abhebt – fragt er auch, was wir uns eigentlich davon versprechen, solch unglaubliches Leid auf Schirm oder Leinwand mitzuverfolgen? Was soll uns das geben? “Ist es das was du sehen willst?” schreit MARTYRS uns an “dann friss, bis du dran erstickst!” Wahllos zur Verdeutlichung ausgewählte Meinungen in Kommentarspalten zum Film, wie “Der Film geht zu weit bzw. mutet dem Zuschauer zu viel zu. […] Eine Brutalität, die keinen Spaß macht” sagen eigentlich schon alles und entlarven die Wünsche und Gewohnheiten des Publikums. Tut mir leid, lieber verstörter Horrorfan, aber MARTYRS soll den seelischen Schmerz, den diese bis zur Selbstaufgabe spielenden Frauen erleiden, erfahrbar und somit keinen Spaß machen.
Und tut es auch nicht.
Und macht daher absolut alles richtig.
Wertung
9 von 10 meta-Blickwinkeln auf das Horrorkino
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
Schöne Perspektive auf den Film. Hatte das soweit auch wahrgenommen. Ähnliche Bestrebungen, Gewalt als etwas nicht mehr Erträgliches darzustellen (was sie natürlich auch ist), gibt es ja auch von Noé und Haneke.
Und auch bei den beiden sitzt das Resultat! In puncto Gewaltdarstellung ist Jeremy Saulnier auch ein Hoffnungsträger. Da hat sie Gewicht und drastische Folgen.