Titelbild & Trailer © by Universum Film
Fakten
Jahr: 2012
Genre: Drama, Thriller
Regie: Thomas Vinterberg
Drehbuch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm
Besetzung: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, Lasse Fogelstrøm, Susse Wold, Anne Louise Hassing, Lars Ranthe, Alexandra Rapaport, Sebastian Bull Sarning, Steen Ordell Guldbrand Jensen, Daniel Engstrup, Troels Thorsen
Kamera: Charlotte Bruus Christensen
Musik: Nikolaj Egelund
Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud
Review
Der dänische Dogma ’95-Autheur Thomas Vinterberg erschafft mit DIE JAGD erneut ein bitteres, beängstigend reales Drama, dessen Thematik von enormer gesellschaftlicher Relevanz definiert ist: Nach dem familiären Stillschweigen graunvoller Missstände im 1995er DAS FEST, geht es nun um unreflektierte, wütende Gruppendynamik. Normale Menschen durch einen kleinen, aber wirkungsvollen Impuls mobilisiert, durch eine leitende Führerfigur zu einem wütenden Mob aufgeschaukelt und in völlig abnormen Wahn verfallen.
Um zu verdeutlichen, wie schnell so etwas gehen kann – wie schwierig es sein kann reflektiert zu bleiben und nicht blind zu folgen, zu hinterfragen und immer skeptisch zu sein – wählt er für seine bedrückende Menschlichkeitsstudie ein Thema, bei dem jeder normal denkende Mensch ganz schnell rot sieht: Kindesmissbrauch. Geringste Anzeichen lassen bereits sämtliche Alarmglocken läuten, blitzschnell sind langjährige Freunde zum potentiellen Täter geworden (und somit auf die Abschussliste gerutscht) und die gelebte Integrität einer Person, welche immer problemlos akzeptierte war, wird in Frage gestellt. Wenn es schwer fällt ruhig zu bleiben, kann Vertrauen schnell in Hass umschlagen. Eine beiläufige Aussage kann reichen, um Lawinen ins Rollen zu bringen.
Aber sollten wir in einer zivilisierten Gesellschaft nicht einmal mehr nachfragen? Erst wichtige Fakten klären? Was wurde gesagt? Wie plausibel erscheint das? Was sagt die andere Seite dazu? Welcher Impuls führte zu den Anschuldigungen? All dies sind Fragen, die zu klären unumgänglich sein muss, wenn Existenzen auf dem Spiel stehen. Nachdem der Erzieher Lucas aus einer Laune heraus von einem kleinen Mädchen, dass sich nicht im entferntesten der Tragweite ihrer Worte bewusst ist, mit schweren Vorfürfen konfrontiert sieht, solten all diese Punkte rational geklärt werden – doch seine Mitmenschen agieren wie ein Stier der Rot sieht, schnell regieren Wut und Hass.
In atemberaubendem Tempo, doch dadurch nicht weniger glaubhaft, nehmen die Geschehnisse in dem kleinen dänischen Örtchen ihren Lauf: Eine Verkettung unglücklicher Zufälle führt zu den Anschuldigungen des kleinen Mädchens, ein fragwürdiger “Spezialist” wird hinzugezogen, dessen Verhör-artige Befragung große Skepsis hervor ruft und schon rollt der Stein unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Ein Stein, der – egal wie sich die Lage entwickelt – nie wieder vollkommen zur Ruhe kommen kann und wird.
Im Kern der Geschichte liegt ein moralisches Dilemma verborgen: Potentielle “Opfer” ernst zu nehmen, ist in solch einem Fall genau so wichtig, wie eine ehrliche, ohne Vorverurteilung rational durchgeführte Anhörung des potentiellen “Täters”. Auch dürfen keinesfalls “erzwungene Geständnisse” aus fehlender Neutralität der Befrager heraus entstehen, genauso wenig ernstgemeinte Anschuldigungen übersehen. Fingerspitzengefühl ist von Nöten, die Situation von einer Brisanz, in der sich wohl niemand gerne wiederfinden möchte. Und so beobachten wir fassungslos den Lauf der Dinge, werden Zeuge wie der Filmtitel DIE JAGD zum Inhalt wird. Hexenjagd, nannte man das früher – Hetzjagd träfe es auch.
Besondere Wucht bekommt das alles durch den traurigen Fakt, dass Situationen wie diese, sowohl wie hier gezeigt in kleinen Maßstäben, als auch auf jedes erdenkliche Maß hochskaliert über Jahrhunderte immer und immer wieder passierten und passieren. Anstatt nachzufragen und den gesunden Menschenverstand zu nutzen, wird blind verurteilt, anstatt sich selbst eine Meinung zu bilden und die eigene Erfahrung einfließen zu lassen, wird die Menschlichkeit über Bord geworfen und potentielle Täter, Feinde, Andersartige zum Freiwild erklärt. Das ist hier so, das war auch im dritten Reich so, das wird wohl leider immer wieder passieren. Und immer werden es nur Einzelne sein, die bei Verstand bleiben und selbigen benutzen.
Inszenatorisch und inhaltlich ist DIE JAGD so nah am Realen, dass es weh tut, emotional wird das Werk von einem großartigen Mads Mikkelsen getragen und so schnürt Vinterberg den Strick um die Kehle immer weiter zu, bis eine andauernde Beklemmung entsteht – und bleibt. Ein brutales Profil gesellschaftlicher Dynamik.
Wertung
8 von 10 dubiosen Anschuldigungen
Veröffentlichung
DIE JAGD ist bei Universum Film als BluRay und DVD erschienen.
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):
ja, das war auch wirklich die einzige stelle wo ich dachte das jemand falsch gehandelt hat.
Nur, dass es für die Formung der Meinung, bzw. des Verständnisses für den vermuteten Vorfall natürlich erstmal die wichtigste ist..
Was danach passiert zehrt ja schon enorm davon, dass alle glauben er hat es getan und die (von der Kindergartenleiterin kommunizierte) Version als gegeben annehmen.
Hat mich auf jeden Fall ziemlich geschleudert, weil der Film verdeutlicht, wie schnell eine saloppe Aussage zu einem sensiblen Thema einen Menschen denunzieren kann.
Vor allem mehr oder weniger irreparabel!
Da habe ich mich tatsächlich etwas unverständlich ausgedrückt
Ich beziehe mich da auf den ‘Spezialisten’ den die Leiterin des Kindergartens zur ersten Befragung heranholt. Ich bin natürlich absoluter Laie, was so was betrifft, aber ich hatte extrem das Gefühl, dass er dem Mädchen die Anschuldigungen förmlich in den Mund legt. Sie verneint ja mehrfach, dass etwas gewesen sei und er beginnt einen sehr unangenehmen Druck auf sie auszuüben. Sie fühlt sich merklich immer unwohler und als er ihr dann die Anschuldigungen quasi vorlegt, nickt sie die nur alle kurz ab um endlich aus der Situation raus zu kommen.
Das hatte für mich fast den Charakter von “Geständnis unter Folter erzwingen”.
Überlege mir für den Text aber noch mal eine verständlichere Formulierung!
gerade weil ich als erzieher arbeite war der film fuer mich doppelt hart.
“eine völlig falsche Methode zur ‚Aufklärung‘”
wie meinst du das? ich fand naemlich noch zur beklemmenden grundstimmung kam noch dazu das eigentlich (fast) nix falsch gemacht wurde. bzw. kein echter fehler begangen wurde. von daher fehlte mir dieses “ach ist ja nur ein film, MIR wuerde das nicht passieren”.
achso: und auch ein ganz großartiges ende!