Durchgelesen: William Gibson – Neuromancer (1984)

Lang ist es her, dass ich NEUROMANCER mal in Form eines semi- bis gar nicht professionell produzierten Hörbuchs genossen habe (eins der Marke “Fans sprechen etwas ein und laden es irgendwo im Netz hoch”). So lang, dass mir im Zuge dieses Re-reads erstmal auffiel, wie wenig mir abseits einiger gängiger Motive noch in Erinnerung geblieben war. Zu wenig, denn an der Qualität des Buches hat es sicher nicht gelegen. Aber lest selbst, warum der Roman große Klasse und immer noch verdammt relevant ist.


Eckdaten
Autor(en): William Gibson
Titel: Neuromancer
Erscheinungsjahr: 1984
Entstehungsland: USA
Genre: Science-Fiction, Thriller, Drogenbuch
Umfang: 288 Seiten
Gelesen: Mai-Juni 2017, Taschenbuch, Englisch


Plot
Case ist Datendieb, wurde aber weil er sich bei einem früheren Auftraggeber bedienen wollte durch ein Neurotoxin derart verkrüppelt, dass sein Nervensystem nicht mehr im Cyberspace einloggen kann. Als ein finanzkräftiger Unbekannter ihm anbietet die Behinderung für einen besonders großen Coup rückgängig zu machen, willigt er ein und gerät schnell immer tiefer und tiefer in Manöver hinein, deren Ausmaß er sich in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte.


Review
Vernetzung, Cyber-Kriminalität, Künstliche Intelligenz – diese, und noch zahlreiche weitere Begriffe, welche William Gibson in seinem Werk NEUROMANCER als treibende Elemente verarbeitete, sind in der heutigen Welt unser aller täglich Brot. Zwar lassen mit nach wie vor nicht existenten echten K.I.s die bahnbrechendsten Durchbrüche noch auf sich warten – Skeptiker, wie auch Beschwörer der Apokalypse atmen auf – doch umgeben uns zig Aspekte der von Gibson in 1984 visionär gezeichneten Welt mittlerweile, teils unbemerkt, dauerhaft im Alltag.

Nichts geht mehr ohne Rechner und Netzwerke, Virtual Reality gaukelt den Trägern der jeweiligen Brillen bereits die totale Illusion einer künstlichen Welt vor. Das alles ist normal geworden, als Zwischenstufe einer rasanten Entwicklung, die noch längst nicht vorbei ist, nun fester Teil der zehner Jahre. In 1984 hingegen, sah die Welt noch anders aus, die Errungenschaften unserer Jetzt-Zeit muteten den meisten Menschen wohl lediglich wie Spinnerei an, unwirkliche Science-Fiction, welche den Hirnen von kauzigen Computer-Freaks (in einem Zeitalter, in dem Computer noch keinerlei Verbreitung genossen) entsprang.

Technik, von er man sich nicht einmal zu träumen wagte. Doch die Zeit zeigte schon immer, dass visionäre Sci-Fi weit mehr als Träumerei darstellt. Wie prophetisch sie sich im Kern tatsächlich geben kann, lässt sich in der Regel erst Jahrzehnte später einschätzen – dass Stanislaw Lem z.B. das Internet oder e-Reader erahnte, wurde erst wirklich bewusst, als diese Dinge existierten, die Tragweite von Orwell’s 1984 bekommt durch Drohnen, Dauerüberwachung und co. nochmals eine neue Dimension. Gleiches gilt hier: Wie ungemein treffend Gibson in NEUROMANCER die technologischen Errungenschaften der Zukunft – einer Zukunft, die für uns schon in Teilen zur Gegenwart geworden ist – erahnte, kristallisiert sich erst nach und nach heraus, haut bei Erkenntnis darüber, wie präzise der Mann Entwicklungen einer weit entfernten Zukunft ableitete, jedoch ziemlich aus den Socken.

Hologramm-Kunst (ging nicht vor wenigen Jahren ein Hologramm des Mitte der neunziger Jahre verstorbenen Rapiers 2Pac mit einer Formation an noch lebendigen Rap-Legenden auf Tour), über technische Körper-Modifikationen (man bedenke was Robotik heutzutage zum Beispiel in Bezug auf intelligente Prothesen ermöglicht), bis hin zur Fähigkeit sich über ein Interface in den Cyberspace einzuloggen und von dort fremde Personen über deren Chip im Kopf zu steuern (na gut, so weit sind wir (noch) nicht) – Gibson’s Welt, in der der Daten-Cowboy Case von einem dubiosen Auftraggeber für einen noch dubioseren Job angeheuert wurde, enthält zahllose Aspekte, die bereits Realität sind und die in 1983 zu erahnen weit mehr, als nur ein wenig Vorstellungskraft erforderte.

Dennoch legt der Roman einen, aus heutiger Sicht herrlich ambivalenten Spagat hin, denn so sehr Gibson’s Denkansätze ihrer Zeit voraus sind, so sehr ist NEUROMANCER auch in der Zeit seiner Entstehung verhaftet. Als Kind der 80er streift die Geschichte immer wieder Relikte eben dieser Epoche – das beginnt bei der Beschreibung von Mode und gipfelt in den (aus den 1980ern unmöglich wegzudenkenden, heute jedoch in großen Teilen der Welt völlig ausgestorbenen) Arcade-Spielhallen.

Besagte Elemente, oder auch Gibson’s visuelle Beschreibung des Cyberspace, in dem Case abtaucht, um mit seinen erlangten Daten-Skills (einer Verbildlichung des heutigen Hackings) manuell Abwehrprogramme zu infiltrieren, wirken auf charmante Weise angestaubt. Man sieht regelrecht die Bilder aus TRON vor dem inneren Auge, doch aus dem Kontrast zu den futuristischen Aspekten entsteht eine amüsante Reibung, die dem Roman einen ganz eigenen Charakter gibt.

Ein weiterer elementarer Teil dieses Charakters ist Gibson’s Stil – „auf den Punkt hingerotzt“ umschreibt diesen vielleicht am besten, denn Gibson ist kein intellektueller Literat oder feinfühliger Sprachvirtuose. Viel mehr bleibt er selbst in dem funktionalen, einfachen Slang verhaftet, den auch seine Figuren sich gegenseitig um die Ohren hauen. In der Gesamtwirkung ist dies nur folgerichtig, denn die Settings die Gibson erdenkt, sind nicht fein. Sie sind kantig, dreckig und von durchtriebenen Individuen durchsetzt.

Moloch-artige Städte, in denen Drogen-Dealer und -süchtige für schnelles Geld husteln beschwören verregnete BLADE RUNNER-Assoziationen herauf, abgeranzte Raumstationen, auf denen dauerbreite Rastafaris einer seltsamen Ideologie (bis in den Tod) folgen, weisen den Weg auf einer obskuren Reise ins Ungewisse, deren Ziel weit mehr, als bloß der von Auftraggeber Armitage angepriesene große Verbrecher-Coup ist. Selbst an den späteren, vermeintlich hochentwickelten Orten, die von der Highsociety frequentiert und voller Glanz und Technologie sind, webt Gibson Zweifel ein – sind die Menschen an diesen Orten noch menschlich, oder nur das leere Endprodukte einer von Drogen und systemisch geschaffenem Schönheits- und Jungendwahn dominierten Dystopie?

Antworten gibt NEUROMANCER nicht, aber es herrscht ein Gefühl vor. Ein Sog. Trotz sprachlicher Einfachheit, teils gar konfus-pulpigen Segmenten, in denen es nur schwer möglich ist während der ruppig-kantigen Dialoge nicht die Orientierung zu verlieren (welche Figur denn jetzt was genau gesagt hat), steuert Gibson’s Ausdruck maßgeblich zur Erschaffung der einzigartig-eigenartigen Stimmung des Romans bei.

Case’s Ausflüge in den Cyberspace gehen in ihrer bildlichen Darstellung problemlos als abgedrehte Drogentrips durch – erst recht ab dem Punkt, an dem fremde Entitäten beginnen ihn in diesem zu kontaktieren und zu instrumentalisieren – und in einer konstanten Steigerung zum Ende der Geschichte hin, entsteht die stetig intensivere Empfindung, sich auf etwas großes, etwas unbegreifliches zu zu bewegen. Und obwohl der wahre Wahnsinn im Finale von NEUROMANCER nicht im Cyberspace, sondern im bizarren Setting der Realität liegt, bedient Gibson die Erwartung, welche er über zweihundert zugvorige Seiten aufgebaut hat, problemlos. Ein Strudel, dessen Geschwindigkeit stetig zunimmt, bis er Case (und den Leser) in ein tiefes, vereinnahmendes Schwarz zieht. Flatlined.

Dass NEUROMANCER in den letzten knapp 20 Jahren gemeinhin meist „nur” als „die Blaupause für MATRIX“ angesehen wird – zu Recht, denn von der wortwörtlichen „Matrix“, über Zion und dessen Bewohner, bis zum Erschaffen ganzer Welten im eigenen Kopf durch Computerprogramme, haben sich die Wachowski-Geschwister mehr als reichhaltig bei Gibson bedient – ist natürlich nicht die schlechteste Huldigung ist, wird dem Roman aber nicht ganz gerecht. Er ist mehr. Zum einen inhaltlich, weil in der rotzig hingeknallten oberflächlichen Story um einen Datendieb auf der Jagd nach einer künstlichen Intelligenz noch wesentlich profundere Gedanken stecken – zum Einfluss von Technologie auf Gesellschaft, zu den Abgründen, in die uns unendliche Möglichkeiten stürzen können, zum Fortlauf unseres Planeten, uvm. – zum anderen aber auf einer schwerer greifbare Weise. Auf die Art, wie ein großes Werk immer mehr als die Summe seiner Teile ist.

Auch knapp 35 Jahre nach seiner Entstehung weiß NEUROMANCER noch für Gedankenfutter zu sorgen, Reflexion und Grübeln anzustoßen. Dass das Buch dabei auch noch verdammt spannend und ebenso weird, zeitweise regelrecht bizarr erscheint, bildet das zweite Standbein des Klassikers. Sollte man gelesen haben. Muss man. Allein schon, um sich zu fragen, wo bei all den wahnwitzigen Bildern, die Gibson heraufbeschwört, eigentlich über die gesamten Jahre die Verfilmungen geblieben sind? Lohnen würden sie.


Weblinks
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6 Gedanken zu „Durchgelesen: William Gibson – Neuromancer (1984)“

  1. Mensch, das möchte ich auch schon ewig mal lesen. Jetzt wirds Zeit … schöne Review. Das wurde tatsächlich noch nicht verfilmt!? Kaum zu glauben. Da scheinen sich aber noch mehr bedient zu haben. Klingt auch stark nach Johnny Mnemonic. Und Murakamis “Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt” ist vermutlich auch eine kleine Hommage …

    1. Leider nein. Ich habe Jahre lang viel zu wenig bis gar nicht gelesen und es tun sich mir derzeit mit “Genres” wie New-weird-fiction regelrecht neue Welten auf.

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