© by Rapid Eye Movies

Film: Alpen – Alpeis (2011)


Titelbild, Bildausschnitte & Trailer © by Rapid Eye Movies


Fakten
Jahr: 2011
Genre: Drama, Satire
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Efthymis Filippou, Yorgos Lanthimos
Besetzung: Stavros Psyllakis, Aris Servetalis, Johnny Vekris, Ariane Labed, Angeliki Papoulia, Erifili Stefanidou
Kamera: Christos Voudouris
Musik: –
Schnitt: Yorgos Mavropsaridis


Review
Das kann man wohl eine Bilanz nennen – Giorgos Lanthimos dreht seinen zweiten, wieder von ihm selbst und Efthymis Filipou geschriebenen Film und trifft erneut voll ins Schwarze. DOGTOOTH von 2009 war bereits einer der vielversprechendsten Debutfilme, die der interessierte Kinogänger in jüngster Zeit zu Augen bekommen konnte – nun zeigt Lanthimos mit dem Nachfolger ALPEN eindrucksvoll, dass er ganz sicher keine Eintagsfliege, sondern vielmehr einer der besondersten und intelligentesten Filmemacher des jüngeren Weltkinos ist.

“Intelligent” – das ist mal eine kühne Behauptung, doch wer sich die Mühe macht DOGTOOTH und ALPEN nicht nur “an”-zusehen, sondern versucht hinter die Fassade des verstörenden Unverständnisses zu treten und in diese Werke “hinein”-zusehen, der wird Probleme haben Filme zu finden, die die Begriffe der Realität und des menschlichen Seins präziser hinterfragen und reflektieren.

Stellte Lanthimos in DOGTOOTH noch die Frage nach den elementaren menschlichen Ur-Trieben, nach Konditionierung, Instinkt, Neugier und der Freiwilligkeit des Strebens nach Mehr, so ist es nun in ALPEN eine differenzierte Durchleuchtung der Begriffe Charakter, Identität und Persönlichkeit. Wer sind wir eigentlich? Sowohl in dieser uns umgebenden Gesellschaft, wie auch im Rahmen unserer Liebsten? Was definiert uns, was ist uns eigen, was ist austauschbar? Sind wir kopierbar? Ersetzbar?

Die Gruppe um Mont Blanc geht einer seltsamen Beschäftigung nach, sie nehmen nach Todesfällen Kontakt zu Hinterbliebenen auf – sowohl Familien als auch Freunden – und bieten an, den Verstorbenen im Rahmen von mehrfach pro Woche stattfindenden zweistündigen Treffen zu ersetzen. Das soll die Trauer mindern und den Start in ein neues Leben ohne den betreffenden Menschen erleichtern. Dabei tragen die vier Mitglieder, zwei Frauen und zwei Männer unterschiedlichen Alters, die Klamotten und typischen Erkennungsmerkmale der Verstorbenen, studieren deren Körpersprache und Sprachmetrik ein und spielen erlebte Situationen der Familien und Paare nach.

Eine bizarre Profession und schnell wird klar, dass ihnen (der titelgebenden Gruppe “Alpen”) weit mehr daran gelegen ist in eine Rolle zu schlüpfen, als dass das Wohl der Trauernden im Fokus läge. Abseits der Jobs versuchen sie spielerisch in schrägen Nachahmungs-Contests verstorbene Prominente zu ersetzen. Als eine der Frauen Prince wählt, wird der Gruppenleiter Mont Blanc wütend: “Prince ist nicht tot, man kann ihn nicht ersetzen!” Der Umkehrschluss: Wer verstorben ist kann (und soll) ersetzt werden – sogar möglichst perfekt. Mangelnde Disziplin wird bestraft. Im Spiel mit den Identitäten beginnen Realität und Schauspiel für die Figuren, wie auch den Zuschauer langsam zu verschwimmen. Sowohl Inhalt als auch Form transportieren ein Gefühl der Gratwanderung: Wie viel Schauspiel benötigt es eine neue Realität zu formen? Diese unscharfen Grenzen werden durch bewusste Kameraarbeit weiter verwaschen, durch extreme Tiefenschärfe bleibt oft nur der Spielende im Fokus – mal sein Hinterkopf, teils auch nur ein anderer Körperteil – der Hintergrund jedoch meist diffus, eine andere Welt, deren Realitäts-Gehalt nicht mehr klar verortbar ist.

Es geht um den Wunsch jemand anderes zu sein und andersherum zu ergründen wer man selbst überhaupt ist. Was echt ist und was Fassade, was spielbar und was so elementar eigen, dass kein Künstler der Welt es imitieren könnte. Eine weitreichende Sinnsuche des Begriffs “Schauspiel”. Immer wieder fallen Sätze wie: “Wer war ihr Lieblingsschauspieler?”, immer wieder werden Filme und das Kino thematisiert, immer wieder also reflektiert ALPEN die Verschmelzung von gespielter Rolle und Realität. Eine tiefe Reflektion, mal zurückhaltend, zögernd, fast statisch, mal aufgeregt, wackelig und aufdringlich von Kameramann Christos Voudouris in wunderbaren Bildern eingefangen.

Neben DOGTOOTH, SYNECDOCHE NEW YORK und HOLY MOTORS wohl die faszinierendste Abhandlung über den Realitätsbegriff in diesem Jahrtausend.
Ganz großes griechisches Kino!


Wertung
8 von 10 energisch erarbeiteten Ballett-Choreografien


Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.