Trailer by ARD
Fakten
Jahr: 2012
Genre: Krimi, Thriller
Regie: Christian Alvart
Drehbuch: Sascha Arango
Besetzung: Axel Milberg, Sibel Kekilli, Lars Eidinger, Peri Baumeister
Kamera: The Chau Ngo
Musik: Michl Britsch
Schnitt: Sebastian Bonde
Review
Was für ein phänomenaler TATORT!?
Auf den Regisseur Christian Alvart halte ich ja sowieso große Stücke – ANTIKÖRPER war stark, PANDORUM war der Wahnsinn, die Schweiger TATORTe waren ein großer Spaß, wenn auch nicht konsequent genug in ihren leicht reaktionären 80er-Äktschn Tendenzen. Aber dass das beste was dieser Mann gedreht hat ein TATORT sein sollte, da hätte ich im Leben nicht drauf gewettet.
BOROWSKI UND DER STILLE Gast ist ein beklemmend-düsterer Thriller wie er im Buche steht. Dass Alvart die richtigen Vorbilder hat (ohne dabei wie eine Kopie zu wirken) wurde in seinem vorherigen Schaffen bereits mehrfach klar, hier hat man tatsächlich das Gefühl, allein von der audiovisuellen Sprache her wäre David Fincher auf David Lynch getroffen – und nochmal: Ohne bloß eine Kopie einer dieser beiden zu sein.
Dabei geht es so typisch los: Hektischer Anruf bei der Polizei, eine Frau in Panik, “Er ist wieder da, er ist einfach durch die Wand gekommen”. Seltsam. Als die Beamten in der Wohnung ankommen ist sie tot. Aus dieser simplen Basis entspinnt sich ein psychologischer Thriller der Extraklasse. Gekonnt jongliert das Skript von Borowski Stammautor Sascha Arango mit heiklen Themen rund um die Privatsphäre: Wie sicher sind die eigenen vier Wände, das eigene Reich, in das Niemand unbemerkt einzudringen vermag? Haustür, Schloss, etc. – ist das alles nur trügerischer Schutz? Ist Sicherheit eine Illusion, die wir uns alle zur Schonung der eigenen Nerven vorgaukeln, weil wir sonst verrückt werden würden?
Alvart’s Inszenierung leistet alles Weitere, um dem Zuschauer kalte Schauer im Minutentakt den Rücken herunter zu jagen. Wir alle haben es doch schon einmal erlebt, dieses zehrende, ungute Gefühl nicht allein zu sein. In der Regel ist es nur ein übler Streich, den die eigene Psyche uns spielt – nachts allein in der dunklen Wohnung, oder der ausgestorbenen Straße im Winter. Aber was wenn nicht? Was ist, wenn hinter der Küchentür, verborgen im Schatten plötzlich doch jemand steht? Oder stand? Was, wenn du nach Hause kommst und plötzlich irgendetwas nicht mehr stimmt, du aber nicht verorten kannst was es ist? Wenn du plötzlich denkst: “Dieser Stuhl stand doch etwas anders, als ich gegangen bin?”.
Getragen von The Chau Ngo’s präziser, viel mit Unschärfe (und der daraus resultierenden Ungewissheit) spielenden Kameraarbeit und dem unheilvoll dröhnenden, Mark-zerreißenden Ambient-Score aus Michel Britsch’s Feder, entfesselt der Film genau das krasse Unwohlsein, was diese Fragen mit sich bringen. Atmosphärisch das dichteste, was je für deutsche Fernsehschirme (vielleicht sogar Kinoleinwände?) produziert wurde, in den dunklen Ecken der gezeigten Wohnungen geht Alvart beinahe schon auf Tuchfühlung mit dem Horror-Genre. Das großartige Schauspiel, besonders von Lars Eidinger rundet das Gesamtbild dann vollkommen ab.
Vielleicht habe ich auch die optimalen Voraussetzungen mitgebracht, um diesen TATORT absolut überragend zu finden:
Zum einen wurde bei mir schon Mal eingebrochen, ich kenne also das Gefühl nach Hause zu kommen und plötzlich zu merken, dass irgendjemand in der eigenen Wohnung war. In dem Bereich, den man ohne es sich je bewusst gemacht zu haben als essentiellste Rückzugsfläche ansieht, in dem niemand anders etwas zu suchen hat, der die Definition von Privatheit darstellt. Und dieses Gefühl ist das Schlimmste! Wenn die, immer in einem völligen Selbstverständnis als 100% sicher und unknackbar angesehene, Schale der Privatsphäre erst einmal so tiefgreifend verletzt, aufgesprengt, und dadurch völlig eingerissen wurde, dauert es Monate, in den letzten Auswirkungen sogar Jahre bis sich diese Wunde wieder geschlossen hat. Es ist, als ob der Eindringling, dieses diffuse, nicht zu verortende Wesen ein Teil von sich dagelassen hat. Ein Geist in den eigenen vier Wänden, der immer präsent ist. Der einen anfangs nachts mit dem Gefühl es sei jemand da aufwachen lässt. Der irgendwie verhindert sich danach wieder vollkommen privat zu fühlen. Der das neu eingebaute Türschloss zu Luft werden lässt und kommt und geht wann er will. Und meist eine Weile bleibt. Insofern hat der Inhalt hier ganz klar in einer (zum Glück schon lang wieder geschlossene) Wunde herumgestochert.
Zum anderen habe ich diesen Film in der ersten Nacht in einem Ferienhaus, irgendwo in der völlig verlassenen dänischen Einöde gesehen – draußen fegte der Wind und motivierte klanglich immer wieder zu unbewussten psychologischen Spielchen und gewollten Fehlinterpretationen der Geräuschkulisse. Das Paranoia-Potential war da, BOROWSKI UND DER STILLE GAST hat es dankend aufgegriffen.
Aus welchen Gründen auch immer – diese Episode des TATORTs (und es widerstrebt mir fast den Film nur auf dies zu reduzieren, weil er so vieles so viel besser macht als sonstige TATORTe) war für mich der intensivste Thriller seit langem und kann getrost als absolutes Meisterwerk des deutschen Sonntagabends bezeichnet werden!
Wertung
9 von 10 manipulierten persönlichen Gegenständen
Weblinks
DAS ERSTE
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Leider keine Streams / Discs erhältlich