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Fakten
Jahr: 2014
Genre: Drama, Gesellschaftskritik
Regie: Andrey Zvyagintsev
Drehbuch: Oleg Negin, Andrey Zvyagintsev
Besetzung: Aleksey Serebryakov, Elena Lyadova, Roman Madyanov, Vladimir Vdovichenkov, Anna Ukolova, Aleksey Rozin, Sergey Pokhodaev, Platon Kamenev
Kamera: Mikhail Krichman
Musik: Andrey Dergachev, Philip Glass
Schnitt: Anna Mass
Review
In einer durch und durch grauen Welt, peitscht sprudelnd eine Brandung gegen die Felsen am Rande des Meeres. Mit unnachgiebiger Beharrlichkeit greift sie immerfort an, gnadenlos, doch bleibt ohne Wirkung: Die Wellen schäumen auf, brechen sich und sind vergessen – jede von ihnen war nur eine unter Millionen, die es mit dem Gestein am Ufer aufnehmen wollten und doch nichts bewirken konnten. Der Kampf der Gezeiten – eine Geschichte der stetigen Unterlegenheit: in langer, langer Zeit – Millionen von Jahren – können die Wellen gemeinsam eine neue Form ins Ufer schleifen, nachhaltig etwas verändern, doch akut und für sich allein, sind sie unbedeutend und machtlos. Prallen ab, statt einzuschlagen.
Diese kargen, wenn auch von einer rauen, natürlichen Schönheit durchzogenen Bilder setzt Filmemacher Alexey Zvyagintsev uns in den ersten Momenten seines Films LEVIATHAN keineswegs willkürlich vor – sie sind ein kraftvolles, treffendes Symbol für den unmöglichen Kampf den Protagonist Kolya zu kämpfen begonnen hat: Allein gegen ein übermächtiges System, um die unrechtmäßige Enteignung seines Grundstücks anzufechten, also schlicht und einfach die Einhaltung des Gesetzes einzufordern, reitet dieser Mann gegen Windmühlen und an ihnen vorbei in sein Verderben. Denn der Feind, dem er sich entgegen zu stellen gewagt hat, spielt nicht nach den üblichen, streng genommen nach gar keinen Regeln, und so bekommt Kolya ein ums andere Mal zu spüren, dass er trotz aller Bemühungen nichts bewegen können wird. Sein Gegner – der Staat, denn die Enteignung geht auf den unsympathischen Bürgermeister des kleinen Dörfchens im äußersten Norden Russlands zurück – wirft ihm wann immer nötig Steine in den Weg. Weil er es kann.
Wie sehr ein System verloren ist, wenn gültige Regeln der Willkür weichen, prügelt LEVIATHAN mit schmerzhafter Deutlichkeit in die Rechtsstaat-verwöhnten Hirne seiner Zuschauer ein – Autor und Regisseur Zvyagintsev zeichnet zutiefst pessimistisch das Bild einer Gesellschaft, in der diejenigen aus Launen heraus den Ton angeben, die sich durch gute Kontakte und genügend geschüttelte Hände in Machtpositionen erheben konnten und die breite Masse sich entweder still diesem Diktat beugt (und vermehrt in die Betäubung flieht), oder schwere Konsequenzen zu fürchten hat. Geld ist Macht, Macht ist Kontrolle, Kontrolle ist Herrschaft, also wage bloß nicht den “Leviathan” – ein Symbol für eine übergeordnete, bösartige Macht, dessen metaphorische Bedeutung sich über die Jahrhunderte stark wandelte und das hier jedoch sogar gleich in mehrdeutiger Hinsicht aufgegriffen wird – anzugreifen, die diabolische Allmacht des Staates wird dich zwingend überrollen.
So fatalistisch dies auch klingen mag, so erleben wir hier drastisch (und ist es generell kein Geheimnis), wie schnell die Mächtigen den Verlockungen ihrer Macht erliegen, sofern sie keinerlei Kontrollmechanismen mehr unterworfen sind. Selbst im eigenen, sich nach außen hin gern mit schneeweißer Weste schmückenden, Land dürfen wir dies immer wieder beobachten (man rufe sich das hilflose Akten-Schreddern des Verfassungsschutzes im Zuge der NSU-Affäre vor Augen – Folgen? Keine.) und heimlich angefertigte Dokumentationen wie PUSSY RIOT – A PUNK PRAYER zeigen unverblühmt, wie in Russland trotz internationalen Drucks genau die Art von Gerichtsprozess, wie sie in diesem Werk schier grotesk anmutet, an der Tagesordnung zu sein scheint. Für Gott und den Staat, wer gegen den Wind pinkelt wird weggesperrt, die einzige Möglichkeit dem zu entrinnen, ist selbst zu gezielten Schlägen unter die Gürtellinie überzugehen.
Wie sehr die sich ergebende, tragische Verkettung von Ereignissen in LEVIATHAN, der dauerhafte exzessive Alkoholkonsum nahezu sämtlicher Figuren und die Drastik, mit der die Handlung zuletzt eine schockierende Wendung nimmt, als tatsächliche Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Russlands zu werten sind, mögen wohl nur diejenigen einzuschätzen wissen, die den realen Zuständen des Landes direkt ausgesetzt sind – auffällig ist es dennoch, dass gerade Staaten, die im Kontrast zur (uns nur zu gut bekannten) Verschleierung von Missständen, auch heute noch durch das offene Vorhandensein repressiver Politik, Willkür und krasser Zensur Schlagzeilen machen, derart kritische Werke hervor bringen. Nachbarland China wurde wenige Jahre zuvor in A TOUCH OF SIN als entmenschlichter Fleck dekonstruiert, in dem das Individuum unter dem Druck eines verlogenen Systems kollabiert, weil dieses dem Menschen jegliche Individualität abspricht, in LEVIATHAN zerbrechen Existenzen unter dem Druck totalitärer staatlicher Gewalt und haben gar vollständig die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben.
Beachtlich an Zvyagintsev’s ruhigem Werk ist jedoch vor allem, wie stark in den langen, weiten Einstellungen nach dem menschlichen Kern gegraben wird. Offenkundig ist LEVIATHAN zwar schreiende Anklage an ein System, zwischen den Zeilen werden jedoch die weitaus spannenderen Fragen gestellt: Was macht all dies aus den betroffenen Menschen? Zu welchen Extremen werden die Opfer getrieben, welche Wesenszüge entwickeln die Bevorteilten dieser unfairen Gleichung? Wie weit kann man Gewalt und Druck noch hoffnungsvoll ertragen, ab wann überwiegen Gebrochenheit und Resignation? Un die vielzähligen Möglichkeiten, die das Werk aus derartigen Fragen ableitet, gestalten sich durchweg plausibel. Wir sehen Ereignisse mit Ursache in und Wirkung auf den Menschen – auch Politik ist nur weltliches Handeln, und so steht abseits der klaren politischen Brisanz und den impliziten Beobachtungen schadhafter Verflechtungen (z.B. des Staates mit der Kirche) vor allem ein universell gültiger, tief menschlicher Film. Einer, dessen feinsinnige Beobachtung des weltlichen Treibens nur erahnen lässt, welch starke Gedanken und (eventuell gar biblische) Parallelen in ihm stecken und dessen Figuren man kauft, mit ihnen fiebert, oder sie gar hasst, weil Zvyagintsev auch hier in Tiefe beobachtet hat und so in der Lage ist, ihre Seele freizulegen. Als dann zuguterletzt wieder besagte Wellen in ihrem unendlichen Treiben über den Schirm schwappen, bleibt eigentlich nur ein Fazit: Das ist großes zeitgenössisches Autorenkino.
Wertung
8-9 von 10 unrechtmäßigen Enteignungen
Veröffentlichung
LEVIATHAN ist am 15. Januar 2016 bei EuroVideo Medien GmbH als BluRay und DVD erschienen. Im Bonusmaterial befinden sich (leider nur) Trailer. Die Discs kommen im Wendecover ohne FSK Logo.
Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
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