© by STUDIOCANAL

Film: No Turning Back – Locke (2014)


Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by STUDIOCANAL


Fakten
Jahr: 2014
Genre: Drama, Kammerspiel
Regie: Steven Knight
Drehbuch: Steven Knight
Besetzung: Tom Hardy, Stimmen: Olivia Colman, Ruth WilsonAndrew ScottBen DanielsTom Holland
Kamera: Haris Zambarloukos
Musik: Dickon Hinchliffe
Schnitt: Justine Wright


Review
Filme mit einem außergewöhnlichen Ansatz sind eine besondere Spezies – sie tragen das Potential in sich, ein unvergleichbares Erlebnis zu sein, so eigen dass sie gar eine neue Gattung des Films erschaffen, oder etablierte Begrifflichkeiten neu definieren. Sollte dies zutreffen, wird meist ganz schnell mit Labels wie “revolutionär“ und nicht selten auch “Meisterwerk“ um sich geworfen. Schlägt die Umsetzung einer andersartigen Herangehensweise jedoch fehl, bleibt bis auf Phrasen wie “nett gemeint“ in der Regel nicht viel übrig. 

Der britische Film NO TURNING BACK (welcher außerhalb von Deutschland eigentlich, angelehnt an den Nachnamen der Hauptfigur, LOCKE heißt) ist eines dieser seltenen Exemplare – ein Kammerspiel Deluxe, die engen örtlichen Beschränkungen dieses Stils auf das extremste überhaupt verdichtet: Ein einziger Schauspieler, der großartige Tom Hardy, an nur einem einzigen Ort, nämlich auf dem Fahrersitz seines BMWs, welcher stetig auf den britischen Autobahnen gen London rauscht. Hardy ist Ivan Locke, ein erfolgreicher Bauunternehmer und fürsorglicher Familienvater, den wir am Abend vor der größten geschäftlichen Herausforderung seines Lebens (und auf dem Gebiet des Rohbaus dem bis dato größten Projektes in ganz Europa) kennen lernen. Doch Locke wird am nächsten Morgen nicht da sein, um das reibungslose Ablaufen der besagten Beton-Lieferung zu überwachen – er ist auf dem Weg zu einer anderen Bestimmung, denn vor neun Monaten hat er einen Fehler gemacht und stellt nun, im Angesicht von dessen Konsequenzen, seine Prinzipien zum ersten mal über alles. Auf der Autofahrt überbringt er die schlechten Nachrichten – an seine Frau, an seine Firma und an seine Kollegen – jegliche Interaktion mit der Außenwelt geschieht per Telefon. Hardy also allein im Auto, nonstop am Telefon, 100 Minuten lang – funktioniert das?

Wahrscheinlich muss man sagen: so gut wie es überhaupt funktionieren KANN, tut es das auch. Tom Hardy ist ganz sicher das Kaliber von Darsteller, dem man stundenlang beim Alleingang zusehen kann und was seinen Ausdruck in Stimme und Mimik betrifft, ist es schwer sich vorzustellen, dass jemand anderes aus diesem Setting an schauspielerischer Wucht noch mehr hätte raus holen können, ohne ins Overacting abzudriften. Bedenkt man mal ganz konkret, wie stark die räumliche Begrenzung auf das das Cockpit eines Wagens den Handlungsspielraum für Körpersprache einschränkt, wird klar dass Hardy hier mit dem wenigst-möglichen auskommen muss, um seiner Figur Profil und Emotion zu geben: Nuancierte Betonung, abwechslungsreiche Mimik, eine kleine Zahl von Gesten (wie ein Schlag auf das Lenkrad als Ausdruck des Zorns) – mehr ist nicht drin, doch er nutzt alles ihm zur Verfügung stehende bis ins Letzte. Egal ob beruhigende, aber doch bestimmte Worte gegenüber dem geschockten Kollegen, der 8 Stunden vor dem größten Deal (ever) den Auftrag bekommt ihn selbst leiten zu müssen, das schuldbewusste, wenn auch nicht frei von Hoffnung vorgetragene Geständnis vor seiner Frau, oder die unterdrückte Verzweiflung gegenüber seinem Sohn, dem er so gern glaubhaft versichern würde, dass alles gut wird, aber in Kern doch weiß, dass sein Leben an einem Wendepunkt steht – das ganze Spektrum will abgerufen werden und Hardy nailt es auf den Punkt.

So weit so gut – doch leider hat LOCKE an anderer Stelle Probleme, die, so sehr Hardy sich auch die Seele aus dem Leib spielt, nicht vollständig gepuffert werden können. Am bezeichnendsten ist wohl das Gefühl, vom Film eigentlich schon vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden: Locke hat seine Entscheidung bereits zu Beginn unumstößlich getroffen, hofft noch eine Weile, dass sich alles zum Guten wenden wird, doch ist über weite Strecken der zweiten Filmhälfte fast nur noch damit beschäftigt, in brutalen Tiefschlägen die Folgen seines Handelns zu ertragen. Wie viel Handlungsspielraum hat er hier eigentlich – unterwegs, eingeschlossen in Auto und vom unumstößlichen Willen die richtige Entscheidung zu treffen und mit den Folgen zu leben immer weiter vom Ort der Probleme weg getrieben? Nicht viel und daher mangelt es seiner emotional fordernden Autofahrt zwar gewiss nicht an Tragik, aber doch ein wenig an Spannung. So weit es geht, bemüht das Skript sich zwar um letztere, schafft zwangs-Pausen, wenn seine Frau einfach auflegt, oder baut last-Minute Probleme auf der Baustelle ein, die Locke aus der Ferne managen muss, aber dennoch hat sein Schicksal eher den Charakter eines abgeschotteten Beobachters, der aus der Ferne zusehen muss, wie sein Haus abbrennt. Wenn man das Gefühl bekommt, der Protagonist hat nur minimal Einfluss auf die ihn “umgebenden” Geschehnisse, fehlt der Ansporn mitzufiebern (bei einem Drama halt im emotionalen Sinne). Der ständige Wechsel zwischen beruflichem und familiärem Problem-Management warf mich zudem eher aus dem jeweils aktuellen raus, anstatt eine stimmige gesamt-Dramaturgie zu formen – zwar gehen beide Katastrophen auf das gleiche, selbstverschuldete Ereignis zurück, emotional sind sie jedoch gänzlich verschiedene Baustellen, die in Wechsel nicht perfekt funktionieren – vielleicht auch, weil es jedes Gespräch als eigenen Szene stehen soll, doch da die Kulisse nicht wechselt die Szenenübergänge recht holprig wirken. Das führt zum nächsten Punkt: Die Kulisse.

Ist man voll drin, leidet, fühlt und hofft mit dem Protagonisten, so ist jegliches Setting in der Regel fast egal und wird zum netten Bonus. Da hier aber der Inhalt nicht über eine gewisse Grenze hinaus zu packen weiß, schlägt sich dies ab einer gewissen Laufzeit unangenehm auf die Wirkung des relativ, nein, enorm monotonen Settings nieder. Wie abwechslungsreich kann man eine Autobahnfahrt bei Nacht audiovisuell darstellen? Richtig: nicht sehr! Auch hier gilt zwar: Was man raus holen kann, holt Kameramann Haris Zambarloukos aus den ewig gleichen Straßen und dem Interieur des Wagens heraus – auf Dauer reicht das aber, trotz aller Perspektivwechsel, Belichtungs-Spielereien und Close-Ups einfach nicht, um voll bei der Stange zu halten. Ich will nicht sagen, dass LOCKE ermüdend ist – dafür bewegt Ivan’s Schicksal (und beeindruckt seine Konsequenz) zu sehr – doch so ganz geht das audiovisuelle Experiment leider nicht auf.

Schön sind jedoch die Gedanken, die in seinem straighten Handeln automatisch mitschwingen: Die Dialoge mit seinen Kollegen und Chefs stoßen die ein oder andere moralische Frage zur heutigen Arbeitswelt auf: Wo wird der Mensch so sehr entmenschlicht, dass Wirtschafts-Zwänge, Job-Pflichten und co. ihn nur noch zur funktionierenden Maschine degradieren? Wie weit ist eine Gesellschaft bereits degeneriert, die eine Person, welche aus moralischer Verpflichtung wichtige private Entscheidungen über die Arbeit stellt, sofort und irreversibel fallen lässt? Wie sehr leidet das zwischenmenschliche Vertrauen unter dem allgegenwärtigen Druck zu funktionieren? Die Liste ließe sich noch eine Weile fortführen, denn wie fremd das Handeln eines Mannes wirkt, der einfach nur einem Wertekodex folgt und “das richtige”, nicht “das vernünftige” was von ihm erwartet wird tut, ist bezeichnend.

Alles in allem ist LOCKE ein von Makeln durchzogener, und dennoch interessanter Film – ein spannendes Experiment, was sich zum Ziel gesetzt hat, auszuloten wie Film reduziert sein kann, um gerade noch zu funktionieren, also auch die Frage stellt: Wie stark drängt ein Aspekt von vielen alle anderen in einem Werk zur Seite? Wie gut das funktioniert variiert sicher stark, steht und fällt mit den Sehgewohnheiten und sollte von jedem Filmfreund für sich selbst erforscht werden.


Wertung
5-6 von 10 erfolglosen Telefonaten


Veröffentlichung
NO TURNING BACK ist bei STUDIOCANAL auf BluRay, DVD und per VoD als Teil der Arthaus Collection erschienen. Im Bonusmaterial der Discs befindet sich der Audiokommentar von Regisseur Steven Knight, ein Making-of und verschiedene Trailer. Die Discs kommen mit Wendecover.


Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

7 Gedanken zu „Film: No Turning Back – Locke (2014)“

  1. Interessant finde ich die Idee und das Konzept auch, doch fürchte ich mich auch vor den Schwächen. Letztendlich würde ich ihn wohl ähnlich sehen wie du – und da reicht das Interesse noch nicht ganz aus. Kommt aber vielleicht noch…

  2. Interessant klingt der allemal. Werde mir wohl selbst ein Bild von machen müssen, denn gerade bei solchen Filmen scheint es schwer vorhersehbar, ob er einem taugt oder nicht. Gleicht wohl mehr einem Erlebnis selbst, denn einem Film?

    1. Naja, zumindest regt der Film dazu an, sich Gedanken zu machen, was Film für einen selbst eigentlich bedeutet und welche “Mindestanforderungen” das Medium erfüllen muss. Ich habe mich bei LOCKE mehrfach gefragt, ob der Film auch als Hörspiel funktionieren würde? Da würde dann ausschließlich die Ebene von Hardy’s Mimik wegfallen – nun muss man sich fragen: Ist diese Ebene so gewichtig, dass der Stoff wirklich als Film umgesetzt werden muss? Oder bedarf es da eigentlich noch mehr? Das ist für sich ziemlich spannend, deswegen würde ich, obwohl ich den Film jetzt gar nicht sooo toll fand, jedem raten ihn zu gucken!

      1. Ja, da ist was dran. Hatte genau das selbe bei dem Film PONTYPOOL erlebt, da kam mir auch der Gedanke eines Hörspiels. Nur dass der Film nicht so krass in seinen Lokalitäten beschränkt ist, wie hier eben LOCKE. Werde ich mal schauen, du könntest dich ja mal PONTYPOOL annehmen, der macht zumindest richtig Spaß.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.