© by DCM & Universum Film

Film: Men & Chicken (2015)


Titelbild, Trailer & Bildausschnitte © by DCM & Universum Film


Fakten
Jahr: 2015
Genre: Tragikkomödie, Satire, Groteske
Regie: Anders Thomas Jensen
Drehbuch: Anders Thomas Jensen
Besetzung: David Dencik, Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Søren Malling, Nicolas Bro, Lisbet Dahl, Poul Ib Henriksen, Bodil Jørgensen
Kamera:  Sebastian Blenkov
Musik: Frans Bak, Jeppe Kaas
Schnitt: Anders Villadsen


Review
Bizarr, bizarr, was der dänische Filmemacher Thomas Anders Jensen in seinem lang erwarteten Nachfolger zum euphorisch gefeierten ADAMS ÄPFEL an schwer zu durchdringendem Irrsinn auffährt. Dass dänischer (oder allgemein nordischer) Humor bzw. die gesamten erschaffenen Filmwelten oftmals von tiefschwarzer Skurrilität durchzogen sind, dürfte zwar keinen mehr überraschen, die Sphären, in die sich jedoch MEN & CHICKEN empor hebt, stellen wohl einige etablierte Werke in den Schatten – vielleicht auch, weil man eine gute Weile graben muss, um unter der hässlichen Oberfläche zum menschlichen Kern vorzustoßen.

Was als die vermeintlich harmlose Suche der Brüder Elias und Gabriel nach den eigenen Wurzeln beginnt, entpuppt sich spätestens, als diese auf einer abgelegenen Insel mit gerade mal 40 sozial wie emotional degenerierten Einwohnern die Spur ihres leiblichen Vaters aufnehmen, als ein Trip ins Groteske. Ins Hässliche und auch in abstoßende menschliche Abgründe. Der verstorbene Mann, den sie als ihren Vater zu glauben kannten, eröffnete ihnen kurz zuvor in Form eines vor seinem Tod amateurhaft aufgezeichneten Videos, dass ihre biologische Herkunft eine andere sei. Fluchs machen sich die zwei konträren Zeitgenossen auf den Weg und erfahren zur Begrüßung direkt auf unsanftem Wege, dass weitere drei Brüder existieren. Fernab der zunächst brutalen und schwachsinnigen Art und Weise dieser drei Prügelknaben, stellt sich schnell ein Haufen Fragen: Was hat es mit den hermetisch abgeriegelten Vater auf sich, was mit den seltsamen Tieren auf dem Bauernhof dieser unangenehmen Zeitgenossen und wieso sind angeblich alle Mütter bei den Geburten verstorben?

Die Art, wie der Film diesen Mysterien auf den Grund geht, sowie die Bilder, welche nach und nach Klarheit verschaffen, reichen von widerlich bis herzerwärmend-menschlich und sind von außerordentlich ambivalenter Beschaffenheit: Zunächst will man meinen, Jensen sei ein verbitterter Misanthrop ist, der mit MEN & CHICKEN seinen ganzen Frust über den geistig und moralisch degenerierten Zeitgeist ablässt, im Detail entpuppt der Film sich jedoch als ein Manifest für das genaue Gegenteil: derartige Wertschätzung des Lebens als Ganzen, kann eigentlich nur aus der Feder eines liebevollen Humanisten stammen, der von Interesse für unsere Spezies getrieben, eigentlich nur dazu aufrufen wollte, die Menschen zu nehmen wie sie sind. So verschroben sich dieser Aufruf auch darstellt, so sehr existiert er. Dass gewisse Zuschauer mit MEN & CHICKEN zu kämpfen haben (und einige dieses Duell verlieren), überrascht nicht – zu kryptisch gestaltet sich die Verpackung des eigentlichen Kerns. Verwirrung und große Fragezeichen, als direkter Effekt der Filmsichtung. Deutet man dennoch die subtilen Zeichen, wird schnell klar, dass unglaublich viele kluge Gedanken und eine sehr eigene Weltsicht in dieser skurrilen Geschichte voll schräger Figuren verbaut sind. Sie zu entschlüsseln soll Jensen’s Aufgabe an uns sein und diese zu lösen nicht allzu einfach – wirkt all dies doch so stark aus der Zeit gefallen, thematisch verschwurbelt und kurz vor einer zufriedenstellenden Lösung rücklings durch den Fleischwolf gedreht, dass die Suche nach dem übergreifenden Sinn mehr Fragen als Antworten generiert.

Immer wieder ist Evolution ein Thema und im Kern dessen steckt vielleicht der zentrale Konflikt des Films: Stillstand gegen Fortschritt. Da sind die einen, die Darwin ganz beiläufig als Vollidioten bezeichnen und mit aller Macht am Status Quo ihres beschränkten Horizontes festhalten – der verzweifelte Bürgermeister, dessen rege Bemühungen seine Mitmenschen im Dorf zu halten einzig darauf beruhen, dass er fürchtet der Ort könne offiziell von der Landkarte gestrichen werden, der älteste Bruder Franz, dem die stillschweigende Bewahrung schlummernder Geheimnisse zu jeder Tages- und Nachtzeit den Einsatz herber körperlicher Gewalt wert ist, oder eben auch Mikkelsen als Elias, der ganz offensichtlich mit psychischen Störungen zu kämpfen hat, doch im Beisein seiner neuen Verwandtschaft den Kampf aufgibt und sich blitzschnell deren animalischen Trotts annimmt. Den Kontrast bildet Gabriel, der Mikro-Biologe, welcher unumstößlich daran festhält die eigene Herkunft zu ergründen, sich für die Entwicklung der Arten interessiert und vom Fortschritts-Denken der Wissenschaft gesteuert wird. Um zu wissen wohin es gehen soll, muss man wissen wo man her kommt – die drei Brüder vom versifften Bauernhof scheinen das nicht zu tun: als Josef aus einem Kinderbuch von Entwicklung, Kreuzung, oder gar dem Massensterben der Arten berichtet, staunen die restlichen Herren, inklusive Elias, ungläubig und mit großen Augen. Läuft es gar auf das Tier im Menschen hinaus? Wie viel davon steckt auch heute noch in jedem von uns? Und wie gut kann es gelingen, durch gesellschaftliche Konditionierung diesen angeborenen Verhaltensmustern zu widerstehen (bzw. welchen bleibenden Effekt hat Konditionierung überhaupt)? Die Herrenhaus-Männer tun es nicht und trotzen somit der gesellschaftlichen Evolution erfolgreich. Von Normen und Regeln frei, leben sie nach gängigen Maßstäben höchst rückschrittlich – doch sind sie daher weniger wert (oder gar weniger Mensch) als ihre “zivilisierten” Analoga?

Was MEN & CHICKEN insgesamt von so manch vergleichbarem Werk entscheidet, ist die zielgerichtete Suche nach Menschlichkeit im Grotesken und die Aussage, dass diese mit an eins grenzender Wahrscheinlichkeit zu finden ist. Also ganz sicher Humanist – der im gleichen Atemzug durch das unkonventionelle Handeln der Figuren auf kluge Weise gesellschaftliche Normen in Frage stellt – nur eben einer, der augenzwinkernd und humorvoll das tägliche Treiben beobachtet und das gesehene in einer gänzlich eigenen Welt verarbeitet. Schon ein eigensinniger Typ dieser Jensen und das ist gut so, denn MEN & CHICKEN ist ebenso eigen, verdammt unterhaltsam und gehaltvoll für mindestens drei Filme – Jensen hat es wieder geschafft, solche Leute braucht das Kino.


Wertung
7 von 10 außergewöhnlichen Evolutions-Theorien


Veröffentlichung
MEN & CHICKEN ist bei DCM im Vertrieb von Universum Film als BluRay und DVD erschienen. Im Bonusmaterial befinden sich: Interview mit Mads Mikkelsen, Trailer. Die Discs kommen im Wendecover ohne FSK Logo.


Weblinks
IMDB
MOVIEPILOT
LETTERBOXD
Streamen: Werstreamt.es
Leihen: LOVEFILM
AMAZON (*) (falls ihr das Widget nicht seht, wird es von eurem Ad-Blocker gekillt):

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.